„Die SPD sollte ihre historischen Wurzeln als Friedenspartei wiederbeleben.“
Dirk Bleicker
Im Vorwort Ihres Buches „Frieden! Jetzt! Überall!“ schreiben Sie: „Wir wollen uns zu Wort melden, weil wir den Frieden bedroht sehen.“ Wer oder was bedroht den Frieden zurzeit?
Michael Müller: Anders als in den 80er Jahren gibt es keine politische Ausrichtung auf dir Suche nach Gemeinsamkeit mehr. Heute dagegen stehen viele nationale bis nationalistische Einzelpositionen neben- und gegeneinander, die immer schwieriger miteinander zu vereinbaren sind. Die historische Erfahrung lehrt uns aber: Es gibt keine Alternative zu einer Friedenspolitik, die nach Entspannung und Gemeinsamkeiten sucht. Die Welt steht deshalb an einem entscheidenden Punkt. Die Rüstungsausgaben steigen so stark wie nie zuvor nach dem Ende der zweigeteilten Welt. Ein wesentlicher Teil davon entfällt auf die atomare Hochrüstung und zwar mit Waffensystemen, die deutlich zerstörerischer und auch schneller sind als früher. Hinzu kommen soziale und ökologische Konflikte, die von den großen Staaten zur Kenntnis genommen, aber nicht gelöst werden. Ich sehe deshalb die reale Gefahr eines doppelten Selbstmords der Menschheit – zum einen der schnelle durch Atomwaffen, zum anderen der schleichende durch die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.
Peter Brandt: Wir erleben bereits seit mehr als zehn Jahren das Wiederaufkommen des Ost-West-Konflikts in neuer Gestalt. Er ist nicht mehr ideologisch aufgeladen, sondern eine reine Machtfrage. Leider wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs die Chance vertan, ein neues Sicherheitssystem zu etablieren. Das rächt sich nun, indem alte Konflikte neu aufbrechen. Die Zeichen stehen klar auf Konfrontation – übrigens schon deutlich vor 2014 als die Situation in der Ukraine eskaliert ist. Dieser Eskalationsmechanismus ist brandgefährlich und unberechenbarer als die Situation während des Kalten Kriegs, da es zwischen den unterschiedlichen Parteien kaum einen Austausch gibt.
Michael Müller: Hinzu kommt, dass seit etwa 40 Jahren eine Globalisierung der Umweltprobleme stattfindet. Das führt dazu, dass wir heute pro Jahr rund 1,7 Erden verbrauchen. Der Welterschöpfungstag findet Jahr für Jahr früher statt. Im Jahr 2040 wird die Erderwärmung aller Voraussicht nach die Schwelle von 1,5 Grad überschritten haben. Die Konsequenz wird sein, dass die weltweiten Verteilungskämpfe um menschenwürdige Lebensbedingungen drastisch zunehmen werden. Wir leben heute am Rande des Friedens.
Bleiben wir bei der Frage der Atomwaffen: Der INF-Vertrag wurde gekündigt, das Iran-Abkommen auch. Warum agiert die Politik so fahrlässig?
Michael Müller: Das Ende des INF-Vertrags ist auch das Ergebnis eines Versagens der Europäischen Union. Die Europäer haben nicht früh und nicht energisch genug auf die Gefahren und die Konsequenzen einer Kündigung hingewiesen. Die EU muss viel stärker als bisher auf eine Politik neuer Gemeinsamkeiten setzen und in der Welt eine einheitliche Rolle spielen. Dafür braucht sie aber zunächst einmal eine gemeinsame Idee, was Europa ist und welche Rolle es spielen soll.
Peter Brandt: Der potenziell mächtigste Mann der Erde behauptet ja auch, der Klimawandel sei eine Erfindung der Chinesen. So viel Ignoranz kann niemand verstehen. Auch wenn manche Entwicklung etwa im Verhältnis zu Russland und bei der Rüstung bereits unter seinem Vorgänger Obama forciert wurde, hat mit Trump die Realitätsverweigerung Einzug ins Weiße Haus gehalten. Auf der anderen Seite gibt es Politiker, die die Realität zwar anerkennen, aber sich in ihr Schicksal ergeben. Das macht Gespräche sehr schwierig.
Michael Müller: Ich finde, diese Entwicklung wird auch an der Rolle der SPD deutlich. Die SPD war Pionier der europäischen Entspannungspolitik, hat sie populär gemacht und sie hatte auch die ersten weitreichenden Konzepte für den Klimaschutz. Heute wirkt sie dagegen wie eine Partei, die versucht, die negativen Seiten einer zu Ende gehenden Epoche abzumildern. Dabei müsste es darum gehen, die neue Epoche mit all ihren Herausforderungen zu gestalten. Alte, nationalstaatliche Rezepte können da nichts mehr bewirken. Deshalb ist eine der Hauptbotschaften unseres Buches: Wer den Frieden will, muss sich jetzt für andere Formen der Sicherheit einsetzen, etwa gemeinsame Sicherheitsstrukturen, die nicht militärischer Art sind.
Sie setzen dabei besonders auf eine starke Zivilgesellschaft. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Weil es die Politik nicht schafft, ist eine starke Friedenbewegung notwendig.“ An den Ostermärschen nehmen allerdings jedes Jahr nur einige Hundert Menschen teil. Stärke sieht anders aus, oder?
Michael Müller: Unsere Initiative „Abrüstung jetzt!“ unterstützten rund 150.000 Menschen. Trotzdem müsste die Anzahl derer, die sich aktiv für Frieden und Abrüstung einsetzen, deutlich größer werden. Der entscheidende Punkt ist aber, dass etwas wächst. In den 80er Jahren ist die Friedensbewegung dadurch stark geworden, dass Friedens- und Anti-AKW-Bewegung zu einer Einheit geworden sind und eine starke gesellschaftliche Bewegung gebildet haben. Etwas Ähnliches ist auch jetzt zu beobachten. Die Schülerinnen und Schüler, die bei den „Fridays for Future“-Demos auf die Straße gehen, kommen zunehmen auch zu Veranstaltungen der Friedensbewegung. Bei der Friedensbewegung rücken dadurch die ökologischen und sozialen Fragen zunehmend in den Vordergrund. Verwunderlich ist das nicht, denn schließlich sind beides Zukunftsthemen. Es geht bei beiden um die Lebenschancen der jungen Generation. In Deutschland sind bereits drei Generationen ohne eigene Kriegserfahrungen aufgewachsen. Wie kann diesen der Wert des Friedens bewusst gemacht werden?
Peter Brandt: Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Erfahrungen des Kriegs und das Bewusstsein dafür, dass die Welt während des Kalten Kriegs einige Male kurz vor dem Abgrund stand, sind bei vielen Menschen nicht oder nicht mehr in den Köpfen.
Michael Müller: Ich denke schon, dass bei den Schülerinnen und Schülern der „Fridays for Future“ das Bewusstsein da ist, dass der Friede gefährdet ist. Entscheidend wird sein, dass die neue Stärke der Friedensbewegung kein Selbstzweck ist. Sie muss auf die Politik den notwendigen Druck ausüben, damit sie wirklich etwas verändert. Denn klarist: Die Verantwortung für den Frieden trägt die Politik.
Was sind in diesem Zusammenhang Ihre Erwartungen an die SPD?
Michael Müller: Die SPD sollte ihre historischen Wurzeln als Friedenspartei wiederbeleben. Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato sorgt nicht für mehr Sicherheit wie behauptet wird, sondern es gefährdet die Sicherheit. Gut ist, dass der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich bei der Vereidigung der neuen Verteidigungsministerin klare Worte gefunden hat. Ich hoffe, darauf folgen auch Taten. Wenn die SPD es richtig anpackt, kann die Friedenspolitik verbunden mit ökologischer Erneuerung eine neue Vision für die Zukunft werden.
Peter Brandt: Die SPD geht gerade durch ein Tal der Tränen. Eine Rückbesinnung auf ihr Wirken und ihre Verdienste als Friedenspartei würden ihr helfen, diesen Leidensweg abzukürzen. Davon bin ich fest überzeugt!
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.