Die Krisen spitzen sich zu: Es ist vieles faul im Staate Polen
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Am 27. Oktober erging die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes: Polen soll täglich eine Million Euro an die EU zahlen, solange die sogenannte Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofes Polens nicht aufgelöst wird. Diese wurde als Teil der umstrittenen Justizreform durch die PiS-Regierung geschaffen und hat sehr weit reichende Kompetenzen. Sie kann z.B. jedem Richter oder Staatsanwalt seine Immunität entziehen und ihn entlassen. Dabei setzt sich die Kammer aus Mitgliedern zusammen, die vom Landesjustizrat ausgewählt werden. Dieser soll eigentlich die Unabhängigkeit der Richter gewährleisten. Das Problem ist nur, dass seine Mitglieder, nach der Justizreform, durch das Parlament, also politisch motiviert, ernannt werden. Die disziplinären Mittel, an denen sich die Kammer bedienen kann, gefährden die Unabhängigkeit der Richter*nnen und somit wird das ganze Justizsystem in Frage gestellt.
Die Sanktionen der EU sind aber auch eine Antwort auf das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes vom Ende September, laut dem das polnische Recht dem EU-Recht übergeordnet sei.
Polens Regierung verdreht die Fakten
Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro antwortete auf die Post vom EuGH verärgert und versuchte die Situation zu verdrehen: „Im Namen der Sorge um die europäische Rechtsstaatlichkeit, dürfen wir uns nicht mit unrechtmäßigen Sanktionen abspeisen lassen" (Zitat nach Gazeta Wyborcza in meiner Übersetzung).
Bereits seit Ende September tickt auch noch eine andere Uhr: Polen soll täglich eine weitere halbe Million Euro an die EU zahlen, weil das Land es versäumt hat, den Betrieb des Braunkohletagebaus in Turów einzustellen, wozu es durch den EuGH aus umweltrechtlichen Gründen verpflichtet wurde.
Zahlt Polen die EU-Strafen?
Was passiert, wenn Polen das Geld nicht zahlt? In erster Linie soll der Fonds für den Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie für Polen unzugänglich gemacht werden. In den nächsten Schritten werden weitere Geldtöpfe dicht gemacht.
All das ist bedrückend, in den letzten Wochen lief aber in Polen so viel anderes schief, dass die Frage der Geldstrafen etwas in den Hintergrund geraten ist, sowohl was die Aufmerksamkeit der Medien angeht, als auch möglicherweise im Bewusstsein der Menschen.
Tödliches Abtreibungsverbot
Anfang November starb in einem Krankenhaus in Pszczyna in Südwesten Polens eine 30-jährige Frau in der 22. Schwangerschaftswoche. Obwohl es klar war, dass ihr Leben durch die Schwangerschaft gefährdet war, wollten die dortigen Ärzte keine Abtreibung durchführen, angeblich aus Angst vor der rechtlichen Verantwortung, der sie sich laut dem neu eingeführten verschärften Abtreibungsgesetz hätten stellen müssen. Die Ermittlungen laufen, vieles bleibt noch unklar, das Ganze hat aber so viele Menschen so erschüttert, dass es eine erneute Welle an Protesten im ganzen Land gab. Primum non nocere! „Erstens nicht schaden“ – wo bleibt das moralisch geforderte ärztliche Handeln in der hippokratischen Tradition?
An der polnisch-belarussichen Grenze spitzt sich die Situation von Tag zu Tag zu und immer mehr Geflüchtete bleiben in den kalten Wäldern der Sperrzone stecken. Zahlreiche Aktivist*innen-Gruppen vor Ort berichten von der schrecklichen Verfassung der Menschen, die es irgendwie durch die Zone schaffen. Darunter sind auch Kinder. Wiederholte Angebote seitens der EU, dort die Frontex einzusetzen, werden von der polnischen Regierung konsequent abgelehnt.
Der Konflikt an der Grenze zu Belarus
Das eine hängt sicherlich mit dem anderen zusammen: einerseits die Geldstrafen und Drohungen, den Geldhahn zuzudrehen, andererseits Interventionsproben in Bezug auf die Grenzsituation, was in den Augen der PiS-Regierung vermutlich als eine gewisse Beanspruchung der Grenze und als ein Akt von oben herab wahrgenommen wird. Die offizielle Antwort lautet: Es gibt genug Soldaten vor Ort. Unausgesprochen bleibt, dass es in erster Linie die polnische Grenze und nicht auch die EU-Grenze sei, ähnlich, wie es sich mit der Einsicht verhält, das nationale Recht sei dem EU-Recht übergeordnet.
Während ich diesen Text schreibe, zieht vor meinen Berliner Fenstern ein singender Laternenumzug, in Köln beginnt der 2G-Karneval und durch meine Heimatstadt Warschau stürmen wilde und wütende Horden von Rechtradikalen, die angeblich die Unabhängigkeit Polens feiern wollen. Sie tun es legal, nach langem Hin- und Her und trotz des eindeutigen Widerspruchs des liberalen Stadtpräsidenten Rafał Trzaskowski. Es ist der 11. November, in Polen ein Feiertag, an dem an die Wiederherstellung der polnischen Staatlichkeit 1918 erinnert wird. An der polnisch-belarussischen Grenze frieren Tausende von Geflüchteten. Was genau dort passiert, bleibt in der Dunkelheit der abgesperrten Zone, in die weder Journalist*innen noch Hilfsorganisationen rein dürfen. Der Betrieb im Tagebau Turów ist im vollen Gange.
Es fällt mir sehr schwer, heute irgendwas zu feiern.
ist Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin von Kurzprosa und journalistischen Texten. 2014 wurde sie mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet.