International

Die Franzosen entdecken eine kranke Gesellschaft

von Lutz Hermann · 21. September 2014

Was befürchtet wurde, ist eingetroffen: Einige Kandidaten der französischen Präsidentenwahl haben sich nicht daran gehalten, ihre Kampagne zu unterbrechen, um nachdenklich und würdevoll das blutige Drama von Toulouse zu verarbeiten. Sie haben es Nicolas Sarkozy und seinem sozialistischen Rivalen Francois Hollande überlassen, der Welt nicht nur tiefe Trauer, sondern auch entschlossene Terrorabwehr zu zeigen.
 
Die Führerin der Rechtsradikalen, Marine Le Pen, wartete die Beerdigung und den Abschied von den acht Opfern des 23-jährigen Killers nicht erst ab, um den Krieg gegen fanatische Islamisten auszurufen. Jahrelang hätte der Präsident die explosive Gefahr unterschätzt. Es hätten sich im Untergrund Gruppen von Hasspredigern und radikalen Islamisten gebildet. Der Vorsitzende der Union der Linken, Jean-Luc Mélenchon, setzte seine Kundgebungen fort, als sei nichts geschehen. Der Chef der Zentrumspartei MoD, Francois Bayrou, klagte Sarkozy an, die Gesellschaft sei im Streit um die Zuwanderer und Integration auseinandergefallen. Er wertete die französische Gesellschaft als krank und labil; der Konservative Nicolas Sarkozy habe es versäumt, eine klare Integrationspolitik zu gestalten.
 
Sarkozy buhlt um Le Pen-Stimmen
 
Die Vorwürfe erstaunen die Bürger:  Die Dame und die beiden Herren hatten vor der Mordserie genügend Zeit, zum Beispiel in ihrer Wahlkampagne kontroverse Themen aufzugreifen und so die Dinge beim Namen zu nennen.  Sie hätten den Wahlkämpfer Sarkozy vorwerfen können, dass er einen Teil der Angriffe von Marine Le Pen kritiklos übernehme. Er buhlt in der Präsidentschaftswahl um die Wähler der Extremistin. Zu viele Ausländer (es gibt 5 Millionen Muslime), gescheiterte Integration, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Plünderung der Sozialkassen durch Zuwanderer – diese Trommel rühren nun beide, die radikale Kandidatin und der rechte Präsidentenbewerber.
 
Auch über die antisemitischen Attacken auf eine jüdische Schule in Toulouse brauchen sich die Spitzenpolitiker nicht besonders aufregen. Die Interessensverbände der französischen Juden warnen seit Jahren vor wachsenden Aggressionen. Die Liste ist lang: Grabschändungen, tätliche Übergriffe, Wandschmierereien, Flugblätter, Hass-Anrufe. Israel ist in Paris mehrmals mit dem Vorwurf vorstellig geworden, es werde nicht  genug gegen Fremdenhass und Antisemitismus in der Grande Nation getan.
 
Wo bleibt die traditionelle Toleranz?
 
Das geht in erster Linie an die Adresse des Staatschefs. Seine negative Einstellung zu jungen Muslimen, deren große Mehrheit französische Bürger sind, stachelt immer wieder die Wut in den Banlieues der Metropole auf. Dort hat sich in den 5 Jahren Amtszeit des Präsidenten nichts bewegt. Die Behandlung der Roma durch französische Behörden – prompte Ausweisung bei Kontrollen – hat viele Franzosen nach der traditionellen Toleranz und Integration fragen lassen.  Sarkozy selbst hatte vor einem Jahr gesagt, die Integration der Migranten sei gescheitert. Ein Eigentor, das ihm selbst im Regierungslager laute Schelte eingebracht hat.
 
Frankreich braucht ist eine gründliche Debatte ohne Vorbedingungen über die  Aufnahme von Einwanderern in der französischen Gesellschaft. Zugleich - und das macht die Taten des 23-jährige Serienmörders erschreckend deutlich - muss über das  Treiben von Hass-Predigern und radikalen Islamisten gesprochen werden. Wenn der Zentrumspolitiker Bayrou ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft öffentlich beklagt, dann soll seine Lagebeschreibung zuerst  Sarkozy treffen, der einmal von einem Marshall-Plan für die Vorstädte sprach, aber ihn später in den Akten sang- und klanglos verschwinden ließ.

Autor*in
Lutz Hermann

ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).

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