Treffen in schwierigen Zeiten: Heute findet der EU-Russland-Gipfel in Brüssel statt. Im Interview mit vorwärts.de sagt der Leiter der Abteilung für Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reinhard Krumm, was von dem Treffen zu erwarten ist – und warnt davor, die Ukraine vor eine Zerreißprobe zu stellen.
vorwärts.de: Heute treffen sich Kommissionspräsident Barroso, Ratspräsident Van Rompuy und die Außenbeauftragte Ashton mit Präsident Putin zum EU-Russland-Gipfel. Was ist von diesem Treffen zu erwarten?
Reinhard Krumm: In den vergangenen Jahren gab es bei diesen Treffen stets sehr detaillierte Gespräche. Gleichwohl haben sich beide Seiten bisher nicht darauf verständigen können, ihr Partnerschafts- und Kooperationsabkommen auf den Weg zu bringen. Es wird also diesmal um das Grundsätzliche gehen müssen, also um die Beantwortung der Frage: Was will man gemeinsam erreichen?
Wohin steuert das europäisch-russische Verhältnis aus Ihrer Sicht?
Wirtschaftlich läuft es ja sehr ordentlich. Über diesen Aspekt muss man nicht groß reden. Im politischen Bereich dagegen ist in den vergangenen Monaten einiges an Vertrauen verloren gegangen. Nun gilt es, dass beide Seiten ganz konkrete Projekte festlegen, bei denen sie zusammen arbeiten wollen. Und zu besprechen, ob sie eine gemeinsame Politik betreiben können, ohne Länder wie die Ukraine vor die Wahl zu stellen: entweder Russland oder die EU. Für mich gilt weiterhin die Vision eines europäischen Hauses, in welcher Dimension auch immer. Dafür müssen die EU und Russland zusammen arbeiten und nicht gegeneinander. Darüber hinaus sollten Russland und die EU die Lösung der eingefrorenen Konflikte in Georgien, Transnistrien und Bergkarabach nicht aus den Augen verlieren. Es bedarf also einer ehrlichen Bestandsaufnahme, was seit 1990 erreicht wurde, wo Nachbesserungsbedarf besteht und wo neue Wege zu beschreiten sind.
Der ehemalige polnische Präsident Kwasniewski hat der EU Naivität in der Ukraine-Frage vorgeworfen. Hat Sie das Vorgehen Russlands überrascht?
Nein, wirklich überraschend war die Reaktion Russlands nicht. Die EU hätte stärker im Blick haben müssen, welche Interessen Russland hat und über welche Instrumente es bei deren Durchsetzung verfügt. Russische Außenpolitik ist meistens reaktiv: Erst wenn ein Ereignis sehr nahe rückt, das Russlands Interessen berührt, beginnt die russische Politik. Wir wissen ja schon lange, dass Russland die Bestrebungen der EU für eine östliche Partnerschaft mit der Ukraine kritisch betrachtet. Gleichzeitig ist die EU nicht bereit, die Pläne Russlands für eine Eurasische Union ernst zu nehmen. Sollte die Eurasische Union eines Tages funktionieren, so nur dann, wenn auch die Ukraine dabei ist. Das wusste die EU, hat aber wohl gehofft, dass die Ukraine dennoch deutlich höheres Interesse hat, ein Assoziierungsabkommen zu unterschreiben. Die Länder, die als Mitglied sowohl für die eine als auch für die andere Union infrage kommen, müssen sich damit für eine Seite entscheiden. Man darf auch nicht vergessen, dass die Ukraine kein geeintes Land ist, das beweisen die Wahlen. Nicht wenige der Menschen schauen nach Westen, aber ein nicht geringer Teil orientiert sich eher gen Russland. Insofern tut man dem Land nichts Gutes, wenn man es zu etwas zwingt, was es kaum leisten kann. Das bittere Resultat sehen wir heute.
Wie könnte also eine Lösung des Konflikts aussehen?
Das muss die Ukraine selbst entscheiden. Man könnte darüber nachdenken, ob die Ukraine nicht in beide Bündnisse, sowohl in die Europäische als auch in die Eurasische Union, eintritt. Oder aber sie tritt keinem der Bündnisse bei. Vielleicht müssen wir einfach akzeptieren, dass es Länder gibt, die sich nicht der einen oder der anderen Union zuordnen lassen. Die Ukraine scheint mir so ein Land zu sein, weil es nun einmal zwei kräftige Wurzeln hat, eine im Westen, eine im Osten.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.