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Die Corona-Pandemie hat Russland eingeholt

Lange waren die Corona-Fallzahlen in Russland niedrig. Inzwischen hat die Pandemie das riesige Land eingeholt. Größer als die gesundheitlichen sind jedoch die sozialen Folgen.
von Peer Teschendorf · 1. Mai 2020
Auch in Moskau gehört der Mundschutz inzwischen zum Stadtbild. Das Corona-Virus breitet sich in Russland aus.
Auch in Moskau gehört der Mundschutz inzwischen zum Stadtbild. Das Corona-Virus breitet sich in Russland aus.

Als im März aus Italien dramatische Bilder kamen, war es in Russland noch sehr ruhig. Die Grenzen nach China waren bereits im Februar geschlossen worden und die Fallzahlen kaum nennenswert. Die Regierung wähnte sich sogar so gut vorbereitet, dass man nach Italien und vielen weiteren Ländern der Welt Hilfsgüter verschicken konnte. Mittlerweile hat die Pandemie Russland eingeholt. Die Fallzahlen steigen deutlich und liegen nun, Anfang Mai, bei über 100.000, mit Infektionen in allen Regionen. Moskau und Umgebung bleiben, mit über 50.000 Fällen, die am schwersten betroffene Region.

Die Todesfälle liegen mit etwas über 1000 Fällen sehr niedrig, was in erster Linie aber an der Zählweise liegt. COVID-19 wird nur selten als Todesursache eingetragen. Meist sind es Herzversagen und Lungenentzündungen, die statistisch gesehen den Tod brachten. Faktisch dürften deutlich mehr Menschen durch den Virus gestorben sInzein.

Was außerhalb Moskaus passiert, ist unklar

Aber Moskau ist nicht New York, und das erstmals im positiven Sinne. Zwar kann man von Überlastungen der Krankenhäuser lesen, von Krankenwagen die neun Stunden warten, um Patienten einzuliefern und von Medizinstudenten, die eingesetzt werden müssen, um mit dem Anwachsen der Krankheitsfälle zu Recht zu kommen. Die Lage scheint aber, den vorhanden Informationen nach zu urteilen, noch beherrschbar.

Allerdings ist Moskau nicht nur ungleich New York, sondern auch nicht gleich Russland. Was im Rest des Landes passiert, ist weit unklarer. Das Gesundheitssystem wurde in den letzten 15 Jahren immer wieder Optimierungen unterworfen, was die Zahl der Krankenhäuser und des medizinischen Personals deutlich reduziert hat. Wie viele der auf dem Papier vorhandenen intensivmedizinischen Einrichtungen funktionieren, wird nun der Ernstfall zeigen müssen.

Nun droht eine noch viel größere Problematik: die Armut. Russlands Wirtschaft geriet bereits vor der Krim-Annexion 2014 und den darauffolgenden Sanktionen aufgrund fehlender Strukturreformen in die Stagnation. Steigende Preise bei schlechter wirtschaftlicher Entwicklung brachten wieder mehr Menschen in oder an den Rand der Armut. 13,5Prozent der Bevölkerung haben weniger als das Existenzminimum von 150 Euro pro Monat zur Verfügung. Demgegenüber schaffte es der Staat dank wieder gestiegener Ölpreise und einer strengen Ausgabendisziplin einen Wohlstandsfonds veritabler Größe aufzubauen.

Der Staat brauchte lange, um Corona als Problem zu fassen

Krisen machen immer die Schwachstellen der Staaten sichtbar. In Russland zeigte sich, dass ein schnelles Umschalten von einer in aller Welt einflussreichen Großmacht auf einen Sozialstaat für die einfachen Bürger*innen nur schwer gelingt. In dieser Krise ergäbe sich die Chance, das zuletzt deutlich gesunkene Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu erneuern und die gestiegene Proteststimmung durch soziale Maßnahmen zu mildern. Aber der Staat brauchte lange, um die Epidemie als Problem zu fassen. Zwar reagierte man sehr früh mit Grenzschließungen, und Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der eigentliche Krisenmanager der Pandemie, setzte rechtzeitig Einschränkungen und schließlich Ausgangsperren mit elektronischem Passierscheinsystem um.

Insgesamt blieben die Reaktionen jedoch, für einen Staat, der sich seiner Machtvertikale rühmt, ungewöhnlich lange unkoordiniert. Der Präsident entdeckte den Wert des föderalen Systems und übertrug die Ausgestaltung der Maßnahmen den Regionen. Noch schwächer fallen die Handlungen hinsichtlich der wirtschaftlichen wie sozialen Hilfen aus. Der Notstand wurde bisher nicht erklärt, der den Staat verpflichten würde, für entstandene Ausfälle aufzukommen. Sehr kurzfristig wurde erst eine Woche, dann ein Monat arbeitsfrei erklärt. Das heißt, alle nicht-systemrelevanten Unternehmen mussten ihre Arbeitnehmer bei voller Lohnfortzahlung nach Hause schicken, wenn es geht in das Home Office, sonst faktisch in Urlaub.

Das Gros der kleinen Unternehmen kann dies allerdings nicht leisten. Bis zu 70 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen droht der Bankrott. Ein Anstieg um fünf Millionen Arbeitslose könnten folgen. Die Mittel, die Russland zur Stützung der Wirtschaft einsetzt, liegen bei 2,8 Prozent der Wirtschaftsleistung und damit weit unter den Werten, die andere Staaten in Europa aufbringen. Mit deutlicher Verzögerung und nach viel Kritik wurden erst Unterstützungen für die kleinen Unternehmen in Form von Zuschüssen und Krediten angeboten.

Notwendige Öl-Einnahmen fallen aus

Für arme oder von Armut bedrohte Menschen, kann dies erhebliche Auswirkungen haben. Im April, so schätzt die staatliche Bank VEB, gingen die Einkommen um 17,5 Prozent zurück. Mehr als 60 Prozent der Bürger*innen haben keine Rücklagen, auf die sie zurückgreifen könne. Die Krise wirkt sich vor allem auf die schwächsten der Gesellschaft aus. Viele Rentner*innen gehen weiter arbeiten, da die Renten kaum ausreichen. Viele Menschen vor allem in den Regionen gehen ungeregelten Beschäftigungen nach, um sich über Wasser zu halten. Millionen Migrant*innen arbeiten, häufig illegal, auf den Baustellen des Landes. Gerade diese Gruppen könnten die eigentlichen Leidtragenden dieser Krise sein.

Dies ist die Stunde des Staates, um seinen Bürgern zu helfen. Der Wohlstandsfond steht bereit. Allerdings fiel die Krise mit einem unnötigerweise vom Zaun gebrochenen Ölpreiskampf mit Saudi-Arabien zusammen, der nun durch deutlich höhere Förderkürzungen beigelegt werden musste. Die notwendigen Öl-Einnahmen fallen damit in Teilen aus. Dass der üppige Wohlstandsfonds nicht genutzt wird, hat aber auch andere Gründe. Er ist in erster Linie dafür gedacht, Russland vor weiteren Sanktionen von außen zu schützen und ist damit eigentlich ein außenpolitisches Instrument.

Von diesem Fokus auf die Außenpolitik wegzukommen, fällt der russischen Führung schwer. EU-Europa kann hier helfen und den Dialog gerade in der Krise verstärken, um die Spannungen auf dem Kontinent weiter zu senken. So kann die gemeinsame Krise vielleicht am Ende sogar helfen, wieder zu mehr Verständigung auf dem Kontinent zu kommen.

Autor*in
Peer Teschendorf

leitet seit 2018 die Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Russischen Föderation.

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