Die ukrainische Regierung ist zurückgetreten, doch der Opposition reicht das nicht. Die Proteste drohen außer Kontrolle zu geraten. Und ukrainische Schriftsteller sprechen von einem Krieg der Staatsmacht gegen die Gesellschaft. Das meinen sich nicht als Metapher.
Die Ukraine hat nach der Entlassung von Regierungschef Mykola Asarow einen neuen Regierungschef: Sergej Arbusow, seinen bisherigen Stellvertreter. Die Gesetze vom 16. Januar, nach denen die Versammlungs- sowie die Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt worden waren, wurden von Präsident Viktor Janukowitsch zurückgenommen.
Der Opposition und den Demonstranten reicht das nicht. Sie wollen den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen. „Wir haben nur einen Schritt getan“, meinte Vitali Klitschko.
Das Verhältnis zwischen der sich hin und her windenden Staatsführung und der Opposition ist derart verhärtet, dass eine politische Lösung des anhaltenden Konfliktes denkbar schwierig wird.
Die Menschen, nicht nur in Kiew, sondern in weiten Teilen des Landes, sind verbittert. Wie sehr, zeigt unter anderem der offene Brief des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowitsch: „Wir können mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde: Wir nehmen unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf,“ schreibt er unter anderem und verweist vor allem auf die Jugend des von den Regierenden an den Rand des Ruins geführten Landes: „Die jungen Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, vertragen keine Diktatur mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive rechnen, ein Land wie Nordkorea an der Ostgrenze zu bekommen.“
„Krieg gegen die Jugend“
Es sei, fährt der Schriftsteller fort, die Revolution der Jugend. Gegen die führe der Staat einen Krieg. Sie werde von ihm gejagt. Jugendliche würden in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und im harten Frost gefoltert. „Man gewinnt den Eindruck, dass im Land Todesschwadronen wüten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten“, schreibt Andruchowitsch.
Die Staatsführung hat zu diesen Vorwürfen bisher keine Stellung bezogen. Sie versucht, sich durch die prekäre Situation durch zu lavieren, immer wieder Zeit zu gewinnen und die von ihr angekündigte Amnestie für alle politischen Gefangenen soll nur gelten, wenn die Protestierenden die Barrikaden abbauen und abziehen. Das wird geschehen. Zumal sich bei den auf dem Maidan- und auf den Europaplatz Demonstrierenden eine Stimmung ausbreitet, die für Vitali Klitschko und die beiden anderen Oppositionsführer gefährlich werden kann: Sie werden zunehmend kritisiert für die schleppenden Verhandlungen.
Protest könnte außer Kontrolle geraten
Wenn Klitschko und seinen politischen Mitstreitern die Kontrolle über den Protest entgleitet, besteht die Gefahr eines brutalen Eingreifens der Polizei und die Ausrufung eines Staatsnotstands. Das würde Krieg bedeuten. Serhij Zhadan, der bekannteste Lyriker der Ukraine, hat in der Süddeutschen Zeitung einen Text veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt: „Die Staatsmacht hat der Gesellschaft den Krieg erklärt, und das ist keine bloße Metapher.“ Das System wolle keine Veränderungen, es sei geprägt von einer postsowjetischen Ideologie.
In diesen Tagen, Ende Januar und Anfang Februar, wird sich entscheiden, ob es tatsächlich zu einem Bürgerkrieg kommt, oder ob Präsident Janukowitsch zurücktritt und es Neuwahlen geben wird. Niemand weiß, wie es weiter gehen wird. Auch Juri Andruchowitsch nicht, wie er in seinem offenen Brief schreibt. Und an die Europäer gewandt formuliert er: „Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit ihrem eigenen Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Ich hoffe, dass sie das zu schätzen wissen.“
ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).