Deutschland, Polen, Europa: In Corona-Zeiten kompliziert
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Basil Kerski überquert eigentlich regelmäßig die deutsch-polnische Grenze. Der Chefredakteur des zweisprachigen Magazins „Deutsch-Polnische Gesellschaft“ fuhr bis vor wenigen Wochen noch häufig von Berlin nach Danzig und zurück. „Jedes Mal, wenn ich die Grenze überquere, fühlte ich mich als Europäer“, sagt der Journalist.
„Aber jetzt“, sagt er, „fühle ich mich interniert“. Denn die Grenze von Polen nach Deutschland ist nach der Corona-Krise geschlossen worden, erst seit wenigen Tagen dürfen zumindest Berufspendler*innen wieder reisen. „Das war mehr eine politische als eine rationale Entscheidung“, erklärt Kerski aus polnischer Perspektive. Dabei habe es dieses Jahr ohnehin schon „in sich“, meint Kerski: „Erst der Brexit, jetzt die Corona-Pandemie."
Regierung propagiert Nationalismus
Der Nationalstaat mit seinen geschlossenen Grenzen als Antwort auf die Corona-Krise – das ist es, was die Regierungspartei PiS in Polen propagiert, erläutert Kerski im Gespräch mit Dietmar Nietan, Schatzmeister der SPD und Vorsitzender des Bundesverbands der deutsch-polnischen Gesellschaft. Auf Einladung der Willi-Eichler-Akademie sprachen sie jüngst über die Rolle Polens in Europa, die Beziehungen zu Deutschland sowie Veränderungen in Politik und Gesellschaft in dem osteuropäischen Land. Ein Rheinländer und ein Danziger, Arbeitskollegen über innereuropäische Grenzen hinweg. Gemeinsam zeichnen sie im „Europäischen Salon“ ein Bild der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in der Corona-Krise – von der Regierung bis hinunter zur gesellschaftlichen Ebene.
Allerdings sind die Entwicklungen in Polen nicht allein hausgemacht: Dass das Land die Grenzen schließen konnte, ist nach Ansicht von Kerski auch das Ergebnis der Entwicklung in ganz Europa: „Die Legitimation, die Grenze zu schließen, ging von anderen Ländern aus“, sagt er mit Blick auf Österreich und die deutsch-französische Grenze. „Dann war der Zug abgefahren.“ Die nationalkonservative Regierungspartei nutzte die Chance, das Land zu isolieren. Nietan ergänzt ebenfalls, als Bundestagsabgeordneter auch selbstkritisch: „Wir haben uns auf das Vertraute, nationale zurückgezogen.“ Dabei müsse die Pandemie doch eigentlich auf europäischer Ebene bekämpft werden.
Widerstand aus Opposition und Gesellschaft
„Aber es gibt Hoffnung“, sagt Kerski, bezogen auf die Entwicklungen in Polen seit dem Erstarken der nationalistischen PiS. Die Hoffnung, von der Kerski spricht, bezieht sich auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Polen. Die waren eigentlich für den 10. Mai vorhergesehen, wurden nun aber aufgrund der Pandemie verschoben. Sie waren als reine Briefwahl in dem isolierten Land gedacht, doch selbst innerhalb der Regierungspartei PiS war man sich über die notwendige Änderung des Wahlrechts dafür uneins. „Alle wissen, dass das nicht möglich ist“, meinte Kerski dazu schon Anfang der Woche, die Opposition war ebenfalls gegen die Briefwahl. An der Debatte über die Wahl könnten sich schwere politische Konflikte entzünden, glaubt Kerski, sich die politische Landschaft in Polen neu ordnen. Die Entscheidung, die Wahl zu verschieben, fiel am Donnerstag, welche politischen Konsequenzen das nach sich zieht, wann und wie gewählt wird, ist aktuell noch unklar.
Aus Sicht von Nietan und Kerski ist die Debatte um den Wahltermin aber auch so dazu geeignet, eine politische Krise in dem Land herbeizuführen. In der polnischen Gesellschaft schwinde der Rückhalt für die konservativ-nationalistische Regierungspartei PiS von Jaroslaw Kaczynski. „Die Regierung hat es sich verscherzt“, meint Kerski, Nietan sieht die Wahl und auch die Debatte um den Termin als Richtungsentscheidung für den politischen Kurs in dem deutschen Nachbarland. „Die PiS kontrolliert nicht das ganze Land“, sagt er mit Blick auf die politischen Verhältnisse, „und die Menschen in Polen merken das.“ Aus der Sicht von Kerski ist die polnische Bevölkerung zwar in weiten Teilen konservativ, aber nicht antieuropäisch. Auch der Nationalismus der Polen ist seiner Ansicht nach nur die Auswirkung der Ungleichheiten innerhalb Europas – noch immer würden polnische Fachkräfte wesentlich schlechter bezahlt als Menschen mit gleicher Qualifikation in Westeuropa. „Das ist eine soziale Frage“, sagt Kerski.
Schock für den europäischen Traum
Die EU-Osterweiterung vor mehr als 15 Jahren, als Polen Mitglied der Europäischen Union wurde, sei für viele Polen die Erfüllung eines Traums gewesen. Seit 1989, so Kerski, seit Solidarnosc, hätten die Polen auf die europäische Integration gehofft, die sich 2004 erfüllte. Auch heute noch sei rund ein Drittel der Gesellschaft klar pro-europäisch eingestellt. „Aber die trauen sich nicht“, sagt Kerski mit Blick auf die politischen Debatte im Land. Ein Drittel sei eher anti-europäisch eingestellt, das übrige Drittel unentschlossen.
Dabei hängt der wirtschaftliche Aufschwung in Polen eng mit der europäischen Verflechtung zusammen. Viele Exporte, rund 60 Prozent, gehen in die europäischen Nachbarländer. Die gesamte polnische Wirtschaft sei ähnlich exportorientiert aufgestellt wie die deutsche, bilanziert Kerski weiter.
Deswegen macht Kerski sich auch Sorgen um die polnische Zukunft: „Die Corona-Krise trifft die gesamte politische Gesellschaft, vom Millionär bis zum Frisör.“ Er mache sich Sorgen, dass der Wiederaufbau in Europa in zwei Geschwindigkeiten vonstatten gehen könnte – unterteilt in Ost- und Westeuropa, dass Europa wieder gespalten werden könnte.
Eine Entwicklung, die Dietmar Nietan als Sozialdemokrat unbedingt verhindern möchte. Es müsse wieder eine europäische Hoffnung geben. „Es geht nur gemeinsam“, sagt er, „und wir müssen mit Herzblut für diesen europäischen Ansatz kämpfen.“ Darin sind sich die beiden Europäer ohnehin einig: Der Nationalstaat ist nicht die Antwort. „Europa ist die Antwort.“