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„In der europäischen Flüchtlingspolitik herrscht heilloses Chaos“

Millionen Flüchtlinge strömen nach Europa. Der Filmemacher Michael Richter hat einige von ihnen begleitet. Im Interview mit vorwärts.de kritisiert er das Vorgehen der EU und fordert ein Einwanderungsgesetz für Deutschland.
von Kai Doering · 6. Januar 2016
Buchcover "Fluchtpunkt Europa"
Buchcover "Fluchtpunkt Europa"

In welchem Zustand ist der „Fluchtpunkt Europa“, nach dem Sie ihr Buch benannt haben?

Der Fluchtpunkt Europa ist in einem schlechten Zustand. Es gibt zwar einzelne Länder wie Deutschland oder Schweden, die große Anstrengungen unternehmen, aber eine harmonisierte Flüchtlingspolitik innerhalb der EU gibt es nicht. Im Gegenteil: In Europa herrscht in der Flüchtlingspolitik ein heilloses Chaos. Die Hauptankunftsländer sind über Jahre allein gelassen worden. In Griechenland etwa war es bis vor wenigen Jahren überhaupt nicht möglich, einen Asylantrag zu stellen. Das rächt sich nun.

Was bedeutet das für die Menschen, die nach Europa flüchten?

In jedem Fall nichts Gutes. Ich habe bei einem Dreh Menschen getroffen, die von der Polizei durch Athen gejagt wurden und anschließend monatelang in Internierungslager gesperrt wurden – nur weil sie keine gültige Aufenthaltserlaubnis hatten. Ich habe zwei Schwestern aus dem Irak kennengelernt, die illegal die Grenze zur Türkei und schließlich nach Griechenland passiert hatten und dort inhaftiert wurden. Sie haben mir erzählt, dass ihre einzige Nahrung aus zwei trockenen Brötchen am Tag bestanden hat und Mithäftlinge immer wieder von den Wachen verprügelt wurden. Auch die medizinischen und sanitären Bedingungen waren in dem Lager katastrophal.  Ähnliches gilt für Bulgarien, Ungarn und mit Abstrichen auch für Italien. Das ist die Realität in der EU.

Weshalb tut sich die EU so schwer, einheitliche Standards für Flüchtlinge festzulegen, an die sich die Mitgliedsländer halten müssen?

Innerhalb der  EU sind  einheitlichen Standards für Flüchtlinge offensichtlich nicht durchsetzbar. Ein EU-Asylrecht wurde viele Jahre nicht implementiert, weil der politische Wille fehlte. Man hat inzwischen den Eindruck, dass die EU  kein einheitliches Gebilde mit regionalen Unterschieden ist, sondern ein Staatenbund, der auseinanderdriftet. Und die meisten Länder sehen die Aufnahme von Flüchtlingen auch nicht als ihre Aufgabe an.

Das immer noch gültige Dublin-Verfahren ist gescheitert. Immerhin darin sind sich die EU-Staaten einig. Wie sollte ein angemessenes europäisches Asylverfahren aussehen?

Dublin ist vor allem deshalb gescheitert, weil die Hauptankunftsländer für Flüchtlinge – Griechenland, Italien und Bulgarien – von den Kernländern allein gelassen werden. Ihnen bleibt kaum etwas anderes übrig als die ankommenden Flüchtlinge durchzuwinken. Bei einem neuen Verfahren müssten vor allem diese Länder deutlich stärker finanziell unterstützt werden. Aus meiner Sicht sind auch Quotenregelungen, wie sie ja in den vergangenen Monaten diskutiert wurden, sinnvoll. Deutschland kann auf Dauer nicht das Gros der nach Europa kommenden Flüchtlinge aufnehmen. Die großen Länder Großbritannien, Frankreich und Spanien müssen sich stärker als bisher engagieren.

Der Bundestag hat im Oktober als Reaktion auf den Flüchtlingsansturm weitreichende Änderungen im Asylrecht beschlossen. Wie bewerten Sie die?

Bundesregierung und Bundestag setzen mit den Änderungen auf das Prinzip Abschreckung. Über eine Ausweitung sicherer Herkunftsländer kann man sicher nachdenken. Die Einstufung darf aber nicht dazu führen, dass der individuelle und vom Grundgesetz garantierte Asylanspruch untergraben wird. Es ist eine Tatsache, dass Roma in Serbien und dem Kosovo sehr schlecht behandelt werden. Es kann also gute Gründe geben, ihnen in Deutschland Asyl zu gewähren. Wichtiger als Abschreckung fände ich, dass Deutschland und andere Länder Signale aussenden, dass sie die Ankunftsländer nicht mit den Flüchtlingen allein lassen und sie stärker unterstützen.

Die EU und Deutschland setzen stattdessen auf Länder wie die Türkei oder nordafrikanische Staaten, damit diese die Flüchtlinge zurückhalten.

Das ist kein neuer Trend. Schon vor mehr als zehn Jahren hat die EU Verträge mit dem damaligen libyschen Machthaber Gaddafi geschlossen. Er sollte die Flüchtlingsströme, die aus der Subsahara kommen, unterbinden. Durch die Umstürze der letzten Jahre hat sich hier einiges verschoben. Der Wassergraben Mittelmeer schützt die Festung Europa nicht mehr.

Warum hört man die Schreckensmeldungen über ertrunkene Flüchtlinge so häufig aus Griechenland und Italien, nicht aber aus Spanien, das ja nur einen Katzensprung von der nordafrikanischen Küste entfernt liegt?

Das liegt daran, dass die spanische Regierung Abkommen mit Marokko und Algerien geschlossen hat. Die algerische Polizei tritt kompromisslos auf und ist unter Flüchtlingen sehr gefürchtet. Flüchtlinge, die an der algerischen Küste aufgegriffen werden, werden tief in die Sahara gefahren und dort ihrem Schicksal überlassen. Und in Marokko ist es nicht viel anders. Gesponsert wird das alles von der spanischen Regierung. Das ist EU-Flüchtlingspolitik.

Sie plädieren in Ihrem Buch für den Ausbau legaler Einreisewege. Würde ein Einwanderungsgesetz in Deutschland die Flüchtlingssituation entschärfen?

Ein wichtiges Motiv für die Flucht nach Europa ist die katastrophale wirtschaftliche Situation in vielen Ländern. Viele Menschen sehen einfach keine Perspektive in ihrer Heimat. Denen könnte ein Einwanderungsgesetz helfen. Es würde auch die Situation von Flüchtlingen aus humanitären Gründen auf der einen und wirtschaftlichen Gründen auf der anderen Seite entwirren. Zurzeit gibt es für die meisten Menschen nur eine Möglichkeit in die EU zu kommen: indem sie eine lebensgefährliche Reise antreten, um vor Ort einen Asylantrag zu stellen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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