Der Corona-Rettungsschirm der EU ist zu klein
Thomas Trutschel/photothek.net
Im Weltwirtschaftsausblick des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden erstmals systematisch die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie eingeschätzt: Demnach hat die Seuche den schlimmsten wirtschaftlichen Rückgang seit der Großen Depression ausgelöst.
In Europa sind vor allem die südlichen Länder betroffen: Unter den Industriestaaten, die 2020 den härtesten Rückschlag erleiden, befinden sich Griechenland (mit -10,0 Prozent), Italien (-9,1), Portugal (-8,0) und Spanien (-8,0). Durchschnittlich erwartet der IWF für diese Gruppe einen Rückgang von 6,1 Prozent. Südeuropa leidet aber nicht nur besonders stark unter dem Virus, sondern auch an der Abhängigkeit vom Tourismus, der in diesem Jahr weitgehend ausbleiben könnte.
Dieser Rückgang führt gemeinsam mit den hohen Haushaltsdefiziten, die von „automatischen Stabilisatoren“ und staatlichen Unterstützungsprogrammen verursacht werden, zu einer massiven Erhöhung der Schuldenquoten. Besonders stark ist dies in den bereits angesprochenen Ländern ausgeprägt: Dieses Jahr wird das Verhältnis der Schulden zum Bruttoinlandsprodukt in Griechenland wahrscheinlich über 200 Prozent liegen, in Italien über 150 Prozent und in Spanien, Belgien, Frankreich und Portugal deutlich über 100 Prozent.
Hohe Schulden belasten Haushaltspolitik
Der hohe Verschuldungsgrad scheint bereits jetzt die Haushaltspolitik zu bremsen: Laut der Berechnungen des IWF ist die haushaltspolitische Lockerung – in Form zusätzlicher öffentlicher Ausgaben und Steuererleichterungen – in Frankreich, Italien und Spanien viel weniger stark ausgeprägt als in Deutschland und großen Ländern außerhalb der Eurozone.
Daher besteht die Gefahr, dass die Maßnahmen zur Stabilisierung des Haushalts in den besonders betroffenen Ländern nicht hoch genug ausfallen. Gleichzeitig drängen diese Länder andere mit stärkerem Haushalt wie Deutschland dazu, ihre Hilfsmaßnahmen einzuschränken, da sie sonst wettbewerbspolitische Nachteile für ihre Unternehmen befürchten. Dies könnte bewirken, dass auch die stärkeren Länder weniger stabilisieren als nötig.
Und da die südeuropäischen Länder noch höhere Schuldenquoten aufweisen, besteht die Gefahr, dass auf den Märkten wieder das Thema der Staatsschuldenkrisen in den Vordergrund tritt – was eine weitere Eurokrise auslösen könnte.
Geld von ESM und EIB hochgerechnet
Wie haben die Mitgliedstaaten bis jetzt auf diese epochale Krise reagiert, die die Europäische Union und die Eurozone massiv in ihrer Existenz bedroht? Auf den ersten Blick erscheint es beeindruckend, dass sie zu diesem Zweck in kurzer Zeit eine Summe von 540 Milliarden Euro mobilisieren konnten. Schaut man aber genauer hin, kann man erkennen, dass dies nur heiße Luft ist.
240 Milliarden Euro werden durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) bereitgestellt. Im Gegensatz zu früheren Zeiten können diese Mittel ohne wirtschaftliche Bedingungen abgerufen werden. Da der Finanzierungsrahmen des ESM allerdings unverändert bleibt, sind dies keine zusätzlichen Mittel – also verringert jeder Euro, der für Covid-19-Maßnahmen verwendet wird, den Geldbestand im ESM, der gegen eine Eurokrise eingesetzt werden kann.
Weitere 200 Milliarden Euro sollen von der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Form von Unternehmenskrediten zur Verfügung stehen. Dazu statten die Länder die EIB mit einem paneuropäischen Garantiefonds in Höhe von 25 Milliarden Euro aus – und nehmen dabei sehr optimistisch an, dass dieses Geld achtfach gehebelt werden kann.
Weiterhin wurde das neue Instrument SURE geschaffen (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency). Dies ermöglicht eine Finanzhilfe von bis zu 100 Milliarden Euro, die die EU in Form von Krediten an betroffene Mitgliedstaaten auszahlen kann.
Insgesamt umfassen die zusätzlichen öffentlichen Mittel lediglich 125 Milliarden Euro, was einem Prozent des BIP der Eurozone entspricht. Darüber hinaus stehen diese Gelder nur als Kredite zur Verfügung, was das Problem der steigenden Schulden in Südeuropa nicht löst. Beschränkt sich die europäische Solidarität in einer epochalen Krise darauf, dass nur eine derart kleine Summe bereitgestellt wird, und diese noch nicht einmal als Transferleistungen, überrascht es nicht, dass die europakritischen Parteien immer mehr politischen Einfluss gewinnen.
Neuer Fonds in Billionenhöhe nötig
Was wäre also die optimale Lösung? Von den zusätzlichen Schulden muss so viel wie möglich auf die europäische Ebene übertragen werden. Ein neuer Fonds sollte den Gegenwert von 10-15 Prozent des EU-BIP (1,4-2,1 Billionen Euro) in Form von Anleihen aufbringen. Diese Mittel würden dann in Form von Transferleistungen an die Mitgliedsländer ausgezahlt, damit die Staatsschulden nicht davon betroffen sind.
Es wäre denkbar, diese Mittel allen Staaten entsprechend ihrem BIP-Anteil zuzuweisen, da so direkte Transferzahlungen zwischen den Mitgliedsländern verhindert würden. Oder es könnte eine Kombination geben, durch die ein Teil der Mittel dementsprechend zugeordnet wird, wie stark die einzelnen Länder von der Coronavirus-Krise betroffen sind.
Als rechtliche Grundlage dafür könnte nicht nur der SURE-Mechanismus dienen, sondern auch Artikel 122 des Vertrags über die Funktionsweise der Europäischen Union. Die Mittel könnten durch Anleihen mit unbegrenzter Laufzeit finanziert werden. Deren Zinsen müssten vom EU-Haushalt bezahlt werden.
Könnten solche Anleihen momentan zu zwei Prozent Zinsen auf dem Markt platziert werden, läge die jährliche Belastung bei 0,2 bis 0,3 Prozent des BIP. Diesen Betrag müssten die Mitgliedsländer über höhere EU-Beiträge finanzieren.
Corona-Bonds bis jetzt abgelehnt
Bis jetzt lehnen die Finanzminister der Eurozone „Corona-Bonds“ ab. Aber sie halten einen Erholungsfonds für möglich. Würde dieser den hier vorgestellten Prinzipien entsprechen, wäre dies ein großer Schritt nach vorn. Sind die „sparsamen Vier“ – Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande – allerdings nicht bereit, ihre Position zu ändern, kann für Europa nichts Gutes erwartet werden.
Lösungen wie die Umstrukturierung der Staatsschulden in den südeuropäischen Ländern wären ein sicherer Weg in die Katastrophe. So würden die Ersparnisse großer Teile der Bevölkerung vernichtet. Und ein Schuldenabbau über eine Reichensteuer könnte nur dann einen effektiven Beitrag leisten, wenn dies nicht nur die Superreichen betrifft, sondern auch die obere Mittelklasse. Wird aber deren Wohlstand verringert, könnte dies Kreditsicherheiten und damit Investitionspotenzial zerstören, das für die Zeit nach der Krise dringend benötigt wird.
Der Druck auf die Südeuropäer könnte dadurch etwas erleichtert werden, indem die im Maastricht-Abkommen festgelegte – inzwischen völlig bedeutungslose – Schuldengrenze von 60 Prozent des BIP endlich abgeschafft wird. Dieser Grenze fehlt jegliche wissenschaftliche Grundlage, und wäre die Wirtschaftspolitik evidenzorientiert, wäre sie schon längst aufgegeben worden. Betrachten wir das Schuldenniveau der großen Volkswirtschaften, wird klar, dass selbst viel höhere Schuldenquoten unproblematisch sind – diejenige von Japan beträgt mehr als das Vierfache der Maastricht-Obergrenze.
EZB als Rettung ohne Legitimation
Am Ende wird es wohl darauf hinauslaufen, dass die Finanzminister sich auf die EZB als Rettung verlassen, wie es bereits während der Eurokrise der Fall war. Mit ihrem Pandemie-Notkaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP), das insgesamt 750 Milliarden Euro umfasst, hat die EZB ein starkes Signal gesetzt. Ihre Präsidentin Christine Lagarde bekräftigte dies am 30. April: „Diese Käufe werden im Laufe der Zeit auf flexible Weise über alle Anlageklassen und Gerichtsbarkeiten hinweg weitergehen.“
Trotzdem ist es gefährlich, wenn Regierungen ihre Verantwortung auf diese Weise abgeben. Kritiker der EZB könnten zu Recht die demokratische Legitimität solcher umfassenden Hilfsprogramme in Frage stellen und ihre verfassungsrechtliche Überprüfung verlangen.
Daher ist es wichtig, dass die sparsamen Vier ihren Widerstand gegen eine gemeinsame Finanzierungseinrichtung auf EU-Ebene aufgeben. Nur so kann das Europäische Projekt überleben, und nur so kann Europa auf diese furchtbare Krise so effektiv reagieren wie die Vereinigten Staaten. Denn, wie der US-Ökonom Paul Krugman Franklin Roosevelt zitiert: „Die einzige haushaltspolitische Sache, die man fürchten muss, ist die Angst vor Defiziten selbst.“
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Hinweis: Dieser Artikel erschien vor der Ankündigung eines europäischen Recovery-Funds in Höhe von 500 Milliarden Euro.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Von 2004 bis 2019 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.