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Demonstrationen gegen Justizreform: Polen ist noch nicht verloren

Im Nachbarland Polen demonstrieren Zehntausende gegen eine geplante Reform, die Kritiker mit der Abschaffung der Gewaltenteilung gleichsetzen. Wie geht der Streit weiter?
von Adam Traczyk · 24. Juli 2017
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Zu Tausenden gingen in den vergangenen Tagen und Nächten Menschen in ganz Polen auf die Straßen, um friedlich gegen die Justizreform der nationalkonservativen PiS-Regierung zu demonstrieren, mit der die Gewaltenteilung in Polen faktisch abgeschafft werden soll. Denn die Reformen sahen vor, dass der Justizminister eigenhändig und fast im Alleingang nicht nur die Richterinnen und Richter am Obersten Gericht entlassen, sondern auch die Präsidenten von Amtsgerichten, Bezirksgerichten und Appellationsgerichten ernennen kann.

Duda stellt sich gegen Kaczyński

Am Montag hat Staatspräsident Andrzej Duda zunächst sein Veto gegen zwei der drei umstrittenen Gesetze eingelegt. Damit tritt die Reform der ordentlichen Gerichtsbarkeit zwar in Kraft, doch der ganz große Streit zumindest vorläufig vertagt.

Die politischen Folgen der Reformen wären enorm. Seit ihrem Wahlsieg im Oktober 2015 hat die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński, dem eigentlichen Drahtzieher hinter der Regierung Szydło und Präsident Duda, durchaus wichtige Erfolge gefeiert. Das Kindergeldprogramm 500+ verhalf vielen Menschen aus der Armut, die Arbeitslosigkeit liegt laut Eurostat bei weniger als fünf Prozent, der Mindestlohn wurde angehoben, das Rentenalter gesenkt. Auch die rechtsnationalistische Rhetorik von einem Volk, das sich sowohl gegenüber dem Ausland als auch den angeblich korrupten und verräterischen Eliten im eigenen Land von den Knien erhebt, findet in vielen Teilen der Gesellschaft durchaus Zuspruch.

Regierungschef nennt Oppositionelle „Kanaillen“

Dies alles ermöglicht der PiS zwar in den Umfragen immer noch stärkste Kraft zu bleiben, doch zu einer Mehrheit, wie sie beispielsweise Victor Orban in Ungarn genießt, fehlt eine Menge. Und diese braucht Kaczyński, um sein eigentliches Ziel - Rache an seinen politischen Gegnern zu nehmen - zu erreichen. Vor wenigen Tagen hat er während einer nächtlichen Sejmsitzung die parlamentarische Geschäftsordnung ignorierend das Wort ergriffen und voller Wut die Opposition als „Kanaillen“ mit „betrügerischen Gesichtern“ beschimpft und des Mordes an seinem Zwillingsbruder und ehemaligen Präsidenten Lech Kaczyński, der 2010 bei der Flugzeugkatastrophe bei Smoleńsk gemeinsam mit 95 weiteren Personen ums Leben kam, beschuldigt. Gleich danach soll er zu einem Oppositionsabgeordneten „sie sollten alle ins Gefängnis“ gesagt haben.

Ohne eine Aussicht auf eine konstitutionelle Mehrheit, bleibt Kaczyński damit nur ein einziges Instrument: die Autokratisierung des Staates ohne Rücksicht auf die geltende Verfassung, die Proteste der parlamentarischen Opposition im Sejm und Senat sowie der Bürgerinnen und Bürger auf den Straßen und den Druck der Europäischen Union oder der USA weiter voranzutreiben. Nach der faktischen Abschaffung des Verfassungsgerichtes und der politischen Unterwerfung der öffentlichen Medien sollte mit der Übernahme der Gerichte ein weiterer Schritt in diese Richtung folgen. Seine nächsten Opfer dürften wohl nach Orbans Vorbild Nichtregierungsorganisationen und private Medien heißen. Im Fall von NGOs sind entsprechende Maßnahmen bereits angekündigt worden.

Junge geben der Protestbewegung neuen Schwung

Doch die polnische Gesellschaft wehrt sich. In großen wie auch in kleinen Städten  sowie im Ausland finden täglich Demonstrationen und Kundgebungen statt, bei denen die Demonstranten Lichterketten mit Kerzen bilden, die zum Symbol der Proteste wurden. Es gibt auch ein interessantes Novum: Im  Vergleich zu den meisten früheren Demonstrationen, die von der Bürgerbewegung „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ und den Parteien des liberalen Zentrums veranstaltet wurden, sind jetzt viele junge Menschen dabei; ähnlich wie bei den „Schwarzen Protesten“ gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Damit herrscht plötzlich eine andere Stimmung, denn es sind nicht mehr vorrangig Menschen mittleren Alters, die zu den Gewinnern der Transformation nach 1989 zählten, auf die Straße. Heute wollen die Jungen nicht nur ihre Grundrechte verteidigen, sondern ein Zurück zum status quo ante verhindern. Dies gibt der jetzigen Protestbewegung einen neuen Schub und erweitert das Narrativ um progressive Themen wie soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Frauen-, Minderheiten- und LGBTQ-Rechte.

Damit entwickeln sich die Proteste von milieueigenen Veranstaltungen zu einer breiten Mobilisierung der Gesellschaft, die in ihrer Vielfalt gegen die autoritären Tendenzen der PiS geeint ist. Selbst viele einflussreiche, konservative Publizisten, die bisher hinter der Regierung standen, bewerten die Reformen kritisch.

Polen braucht Erneuerung - so oder so

Unabhängig davon, wie der Streit um die Gerichte ausgehen wird, deutet vieles darauf hin, dass die Republik nach der Regierungszeit von Kaczyński grundlegend erneuert werden muss. Es wird einen neuen Gesellschaftsvertrag geben müssen, der inklusiver, gerechter und solidarischer ist, als der nach 1989. Denn die Erfahrungen der letzten zwei Jahre zeigen, wie labil das Fundament einer Demokratie ist, wenn zu viele Menschen auf der Strecke gelassen und somit den Rechtspopulisten überlassen werden.

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Adam Traczyk

ist Vorstandsvorsitzender des progressiven Think Tanks Global.Lab in Warschau, Mitglied der Partei Razem und tritt regelmäßig als Referent für die Friedrich-Ebert-Stiftung auf.

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