Das will der neue Ministerpräsident Mario Draghi in Italien ändern
imago images/Xinhua
Italiens neue Regierung unter Ministerpräsident Mario Draghi steht: Sie gewann die Vertrauensabstimmungen im Abgeordnetenhaus und Senat klar. Unterstützung erhielt Draghi von allen bisherigen Parteien der Vorgängerregierung Conte. Als erste Überraschung darf, dass auch die Fünf Sterne diese Lösung mittrugen, obwohl der Ex-Chef der EZB ihnen bisher als klassischer Vertreter jenes Establishments galt, gegen das sie sich gegründet hatten.
Sogar Salvini unterstützt Draghi
Noch überraschender allerdings ist die Positionierung der Parteien der bisherigen Rechtsopposition. Während das Ja von Silvio Berlusconis Forza Italia erwartet wurde, erstaunte die plötzliche Kehrtwende von Matteo Salvinis rechtspopulistischer, EU- und fremdenfeindlicher Lega. Salvini dürfte mit seiner Unterstützung Draghis einerseits den Erwartungen breiter Teile seiner norditalienischen Wählerschaft, die an politischer und wirtschaftlicher Stabilität statt an einem Wahlkampf mitten in einer tiefen Krise des Landes interessiert sind, entsprechen. Andererseits dürfte er mit seinem Schritt die Hoffnung verbinden, so auf die Geschicke einer Regierung, die auch ohne ihn Mehrheiten hätte, wenigstens einen gewissen Einfluss ausüben zu können.
Als einzige Oppositionspartei verbleiben damit die postfaschistischen, stramm rechtsnationalistischen Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens), während Italien eine Regierung bekommt, die von der radikal linken LeU bis hin zur radikal rechten Lega Unterstützung erfährt – ganz so, als würde eine Bundesregierung von Katja Kipping genauso wie von Jörg Meuthen getragen.
Draghi stellte ein Kabinett zusammen, das sich als gemischte „technisch-politische“ Lösung präsentiert, in dem sich neben acht Expert*innen 15 Vertreter*innen der Parteien finden. Die meisten Ministerien von Gewicht allerdings sind in der Hand von Expert*innen, Inneres und Justiz genauso wie jene Ressorts, die eine zentrale Rolle bei der Umsetzung des Recovery Plan und damit der Verwendung der aus dem Programm „Next Generation EU“ für Italien bereitgestellten 209 Milliarden Euro spielen werden.
Anspruchsvolle Agenda der neuen Regierung
In den Vordergrund stellte Draghi in seiner Rede vor dem Parlament die Bekämpfung der Pandemie und der durch sie ausgelösten tiefen ökonomischen und sozialen Krise als gemeinsame nationale Anstrengung, in der Einheit zur „Pflicht“ werde. Dabei setzte er jedoch klare pro-europäische sowie auch progressive Akzente. Unumkehrbar sei der Euro, erklärte er, unverzichtbar auch weiterer nationaler Souveränitätsverzicht zugunsten verstärkter eu- ropäischer Integration und erteilte so dem Lega-Kult von der nationalen Souveränität („prima gli italiani!“) eine klare Absage.
Zudem warb er für entschlossenen ökologischen Umbau sowie für die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit, mahnte Generationengerechtigkeit zugunsten der Jüngeren ebenso wie Politiken zur Beseitigung des Gender-Gefälles an, verlangte daneben eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens und eine klare ökologische Ausrichtung, in der „ein guter Planet, nicht nur gutes Geld“ zählen müsse.
Verwaltung und Steuersystem soll reformiert werden
Als zentrale Reformbaustellen benannte Draghi die Effizienzsteigerung in der öffentlichen Verwaltung und in der Zivilgerichtsbarkeit. Außerdem müsse Italien eine große Steuerreform mit Ausrichtung auf ein System der Progression, das vor allem die mittleren Einkommen entlastet, in Angriff nehmen.
In Italien bestand seit den Wahlen 2013 ein dreipoliges politisches System: das Mitte-Links-Lager, die Rechte, die Anti-Establishment-Kraft der Fünf Sterne. Keiner dieser drei Blöcke hatte und hat eine Mehrheit im Parlament.
Deutliche Auswirkungen auf das Parteiensystem
Allerdings verfolgte der PD-Chef Nicola Zingaretti in den letzten Monaten das Ziel, aus der PD, der radikal linken LeU und dem M5S eine neue Mitte-Links-Allianz zu schmieden, die der Rechten gegenüber sowohl bei den nationalen als auch bei Regional- oder Kommunalwahlen konkurrenzfähig sein kann. Nicht zuletzt um dieses Vorhaben zu torpedieren, so Zingarettis Verdacht, habe Matteo Renzi die Regierung Conte gestürzt.
Auf den ersten Blick ist Renzis Vorhaben, die PD und das M5S auseinanderzudividieren, gescheitert, da beide Parteien Draghi unterstützen. Gespalten hat sich dagegen die Rechte: Lega und Forza Italia stehen hinter Draghi, die postfaschistische Fratelli d‘Italia in Opposition zu ihm. Doch perspektivisch werden die Rechtsparteien in allen zukünftigen Wahlen wieder als Allianz antreten und können hoffen, die Regierung Draghi einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Auch die Lega, die programmatisch Kröten schlucken muss, sieht (bislang) keinerlei innerparteilichen Widerstand.
2023 droht Wahlsieg der Rechten von Salvini
Tief zerrissen zeigt sich dagegen die Fünf Sterne. Entstanden war es 2009 als Kraft gegen eben jenes Establishment, das von kaum jemandem so verkörpert wird wie von Draghi. Viele Parlamentarier*innen können sich auch nicht mit dem Gedanken anfreunden, nun an der Seite der Lega und erst recht der Forza Italia, der Partei des vorbestraften Silvio Berlusconi, eine Regierung zu tragen. Über 30 Abgeordnete der Fünf Sterne haben gegen die Regierung Draghi votiert und wurden umgehend aus der Partei ausgeschlossen. Die tiefe Krise der Fünf Sterne könnte sich deshalb hin zu einer existentiellen Krise verschärfen, in der auch Spaltung und Implosion der Bewegung mögliche Szenarien sind. Damit aber könnte die Hoffnung auf die Entstehung eines neuen, mehrheitsfähigen Mitte-Links-Lagers hinfällig werden – und damit droht spätestens bei den Wahlen im Frühjahr 2023 ein Erfolg der Salvini-Rechten.