International

Das Klima in Geiselhaft des Wachstums

von Michael Müller · 2. Dezember 2011

Im vergangenen Jahr wurden die höchsten Kohlendioxid-Werte seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen. Endlich Zeit zu handeln also. Doch offenkundig trennt beim Klimaschutz ein tiefes Meer Wissen und Handeln.

Nick Reimer ist der unermüdliche Chefredakteur der „Klimaretter“, dem Onlinedienst in Klima- und Energiefragen. Wer bei dem Thema auf der Höhe der Zeit sein will, muss die Seiten der Klimaretter anklicken. Die Redaktion schreibt nicht nur über Klimaschutz, sie verhält sich auch ökologisch, um glaubwürdig zu sein, und liefert selbst Beispiele, was zum Schutz der Erdatmosphäre möglich ist. So auch im Vorfeld der diesjährigen UN-Klimakonferenz. Reimer fährt mit dem Zug nach Südafrika, wo Ende des Monats in Durban die nächste Runde im Kampf gegen die Erderwärmung stattfinden wird. Auch vor vier Jahren, der Klimakonferenz auf Bali, hatte er sich weitgehend auf dem Landweg zum Tagungsort aufgemacht – anstrengend, aber interessant, mühsam, aber machbar.

Natürlich ist Reimers Reise ein Event, kein verallgemeinerbares Beispiel. Doch es dreht die Moderne, in der Zeit und Raum immer schneller überwunden werden, für einen Moment zurück in eine Vormoderne. Mobilität, das große Privileg des Ölzeitalters, wird wieder – wie in vergangenen Epochen – zu einer mühsamen Bewältigung des Alltags. Aber so weit weg, wie diese Zeit auf den ersten Blick scheint, ist sie gar nicht. Sie ist vielmehr eine durchaus denkbare Perspektive, wenn das fossile Zeitalter nicht schnell beendet wird. Ganz gleich, ob der Klimawandel uns dazu zwingt oder – was möglicherweise noch früher passiert – uns die Knappheiten der Ressourcen einholen. Die Alarmsignale, zum Beispiel die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko oder zuletzt die Jahrhundertüberschwemmungen in Thailand, werden lauter.

Warnung seit 25 Jahren

Seit einem Vierteljahrhundert warnen die Vereinten Nationen vor einer vom Menschen verursachten Klimakatastrophe. Schon vor 19 Jahren fanden auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro erste weltweite Verhandlungen über den Umgang mit dem menschengemachten Treibhauseffekt statt, Die reichen Länder der Erde verpflichteten sich damals zu der Klimarahmenkonvention (UNFCCC), um den Treibhauseffekt, so steht es in Artikel 2, in einer Weise zu begrenzen, dass es zu keinen irreversiblen Schäden kommt.

Aus der Klimadiplomatie ist bisher genauso wenig herausgekommen wie aus den großen Versprechungen, die 2007 nach der Veröffentlichung des 5. Sachstandberichts des Weltklimarates (IPCC) nahezu alle Regierungen gemacht haben. Damals machten auf den vier Konferenzen des IPCC die Wissenschaftler in aller Deutlichkeit klar, dass ein Teil der Welt schon dem Klimawandel geopfert wird, vor allem die ärmsten Regionen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Deshalb fühlt sich das Bangladesh Climate Vulnerable Forum (CVF, einer Vereinigung von 30 Staaten in Asien und im Pazifik, die am stärksten vom Klimawandel bedroht sind) von der Weltgemeinschaft in Stich gelassen.

Doch bis heute gibt es keine verbindlichen Verabredungen, wie dem Klimawandel zu begegnen ist. Und das obwohl sich die Weltgemeinschaft im letzten Jahr nach schier endlosen und mühsamen Verhandlungen im mexikanischen Cancun auf einen groben Rahmen für ein künftiges Klimaabkommen hat einigen können, wonach die globale Erderwärmung zwei Grad Celsius nicht überschreiten soll. Für dieses Ziel sollte in diesem Jahr über Technologietransfers, Klimaanpassungsmaßnahmen, einen Waldschutzmechanismus und die Klimafinanzierung beraten und dann in Durban entschieden werden. Doch ein Durchbruch ist in Südafrika nicht zu erwarten.

Die Zeit wird eng, doch nichts passiert

Dabei bleibt selbst das Zwei-Grad-Ziel, dessen Erreichen von immer mehr Klimaforschern bezweifelt wird, weit hinter dem zurück, was in den 90er Jahren angestrebt wurde. Damals hat die Wissenschaft gefordert, die Erwärmungsobergrenze auf 1,5 Grad Celsius über dem natürlichen Wert festzulegen. Dieser Wert ist heute faktisch erreicht, wenn die Zeitverzögerung von 40 bis 50 Jahren zwischen der Verursachung des Klimawandels bis zu seiner völligen Umsetzung einbezogen wird. Herausgekommen ist bei der Klimadiplomatie wenig. Sehenden Auges läuft uns die Zeit weg, endlich zu einer Klimawende zu kommen.

Der Handlungsspielraum wird eng, dennoch werden die Anstrengungen nicht etwa verstärkt, im Gegenteil: Unter dem Druck der Finanz- und Wirtschaftskrise tun viele Staaten noch weniger für den Umwelt- und Klimaschutz. In den USA machen beispielsweise die oppositionellen Republikaner Druck auf Präsident Obama, die ohnehin schon viel zu geringen Ausgaben für den Klimaschutz fast um die Hälfte zu kürzen.

Auch in der EU sind die Bremser stärker geworden. Zuletzt gehörte auch die Bundesregierung zu den Bedenkenträgern, den Flugverkehr in den Emissionshandel umfassend einzubeziehen. Der Bundesumweltminister muss zugeben, dass vor allem bei der Steigerung der Energieeffizienz, dem Kernbereich des Klimaschutzes, viel zu wenig passiert. Was nützt es, ehrgeizige Ziele zu proklamieren und von einer Schicksalsfrage der Menschheit zu sprechen, wenn die eigene Glaubwürdigkeit verloren geht? Noch nie seit Mitte der 90er Jahre war der Klimaschutz in der Bundesregierung so schwach.

Die Bundesregierung bekennt sich nicht eindeutig

Der UN-Sicherheitsrat hat die Erderwärmung als eine große Bedrohung des Weltfriedens dargestellt. Aber bis heute gibt es nicht einmal ein festes Mandat der UN-Klimakonferenzen, ein neues Abkommen zu verhandeln, denn der Kyoto-Vertrag, der 1995 beschlossen wurde, läuft jetzt aus.

Auch die Bundesregierung bekennt sich nicht zu einer konsequenten Strategie. Auf der einen Seite will sie ihren vergangenen Ruhm als „Klimaschützer“ nicht verlieren und auch weiterhin zu den heute nicht mehr sehenden Vorreitern des Klimaschutzes gehören. Auf der anderen Seite passiert nur wenig, um die eigenen großen Ankündigungen umzusetzen. Nur im Krisenjahr 2009 gingen die CO2-Werte leicht zurück, aber eine weltweite Rezession kann wahrlich nicht das Mittel sein, um zu mehr Klimaschutz zu kommen.

Offenkundig liegt ein tiefes, scheinbar unüberbrückbares Meer zwischen unserem Wissen über die Klimagefahren und den Gegenmaßnahmen, die ergriffen werden. Im Jahr 2010 sind die Kohlendioxidemissionen, die Hauptverursacher der Erderwärmung, auf einen neuen Rekordwert angestiegen. Sie lagen sogar fünf Prozent höher als im bisherigen Rekordjahr 2008. Und nicht nur das: Der World Energy Outlook 2011 der Internationalen Energieagentur (IEA) kommt auch zu dem Ergebnis, dass sich zum zweiten Mal in Folge die Energieeffizienz verschlechtert hat. Das macht die Brisanz besonders deutlich: Der Pegel der Treibhausgase steigt, die Handlungsbereitschaft sinkt.

Berechtige Sorge über das Zwei-Grad-Ziel

Die berechtigte Sorge ist, dass selbst das unzureichende Zwei-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen ist. Es gilt als die Grenze, bei deren Überschreiten die Folgen des Klimawandels wahrscheinlich unumkehrbar werden, schädigt aber bereits große Teile der Erde einschneidend. Oberhalb dieser Grenze wird er sich dann so beschleunigt haben, dass so genannte Umkipppunkte zum Beispiel im arktischen Meereseis, grönländischen Eisschild, indischen Sommermonsun oder Absterben der Borealwäldern nicht mehr rückgängig zu machen wären.

So wird die Verantwortung, die auf den 193 Staaten lastet, die in Durban zusammenkommen, tonnenschwer. Dabei gibt es bereits zahlreiche Studien und Berechnungen, die zeigen, dass die Erwärmung sogar auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden könnte. Auch ist bekannt, dass uns Folgen des Klimawandels ungleich teurer zu stehen kommen als der Umbau hin zu einer ökologisch verträglichen Wirtschaft und Gesellschaft. Doch bislang bleibt der Blick der Regierungen und auch großer Teile der Wirtschaft und Gesellschaft auf die aktuellen Zwängen und die Herausforderungen der nächsten Wochen verengt. Eine langfristig ausgerichtete Politik hat es schwer.

Wir brauchen einen grundlegenden Umbau

An den wissenschaftlichen Fakten kann es keinen Zweifel mehr geben, aber der Klimaschutz lässt sich nicht erreichen, wenn die Wirtschaft nur grün angestrichen wird. Er braucht den grundlegenden Umbau und lässt sich nicht erreichen, wenn alles so bleibt wie bisher. Gerade dadurch sind wir ja in das Debakel geraten. Klimaschutz braucht eine Dreifachstrategie: national Pioniere und Vorreiter, europäisch eine Nachhaltigkeitsstrategie und weltweit, wo immer es geht, internationale Verträge, die verbindliche Reduktionsziele verfolgen. Je nach Situation, muss die eine oder andere Ebene mehr tun. Insofern geht es nicht nur um Klimaschutz, sondern um eine Wirtschaft und Gesellschaft, die sich nicht länger in Geiselhaft kurzfristiger Wachstumszwänge nehmen lassen.

Natürlich wird mit der Konferenz in Durban wieder stärker über den Klimawandel gesprochen, aber es ist dasselbe wie jedes Jahr vor Weihnachten. Und der Weltklimarat hat mit seinem Sonderbericht die Öffentlichkeit schon eingestimmt. Gab es früher katastrophale Wetterextreme alle 20 Jahre, treten sie heute schon alle fünf Jahre auf. Doch geändert hat sich bisher nichts. In zwei Jahren, wenn der nächste Sachstandsbericht des IPCC veröffentlicht wird, wird es dann wieder den ganz großen Aufschrei geben, warum so wenig getan wird. Dann steht der Zustand der Meeressysteme und auch der Gebirgswelten im Mittelpunkt. Einiges ist schon durchgesickert, zum Beispiel die Versauerung der Meere, was sich nicht nur auf den Klimawandel auswirkt, sondern insgesamt die Meeresbiologie massiv schädigt.

Autor*in
Michael Müller

war Sprecher der SPD in der Klima-Enquete des Deutschen Bundestages und ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde.

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