Der Belagerungsring um Aleppo zieht sich zu. Macht Assads Armee gemeinsame Sache mit einer Al Kaida-nahen Terrororgansation?
Es fehlen nur noch wenige Kilometer. Dann ist der Korridor geschlossen, dann ist die größte Stadt Syriens, Aleppo im Norden des Landes, von der Außenwelt abgeriegelt. Kein Nachschub mehr, keine Medikamente, keine Lebensmittel, keine Munition. Dann sitzen die Menschen in Aleppo in der Falle, rund 300.000 Zivilisten und 6000 Kämpfer verschiedener meist islamistischer Brigaden, die im Januar noch Al Kaida-nahe Terroristen in Syrien bekämpft hatten. Langsam aber stetig zieht sich der Belagerungsring zusammen um diese Stadt, in der zu Friedenszeiten 1,6 Millionen Menschen gelebt hatten. Inzwischen sei die Stadt nahezu entvölkert, erzählt der Arzt Dr. Ammar Zakaria, die Hälfte der Bewohner hätte sich schon in den letzten zwei Jahren vor den Kämpfen in Sicherheit gebracht. „Nach dem Beginn der Angriffe mit Fassbomben Mitte Dezember waren dann noch einmal 500.000 durch den schmalen Korridor geflohen“, immer bedroht von Scharfschützen, deren Gewehre noch auf 1000 Metern genau treffen.
Sharia-Diktatut vom Irak bis zum Mittelmeer
Dr. Ammar weiß, wovon er redet. Er ist so etwas wie der gute Geist der umkämpften Stadt. Als Arzt in Aleppo koordiniert er die medizinische Versorgung, aufopferungsvoll und ohne Rücksicht auf sich selber, dennoch mehr schlecht als recht; denn es fehlt an allem, schon jetzt, obwohl Nachschub in die Stadt noch möglich ist. Doch die meisten Straßen, über die Aleppo bislang aus der Türkei versorgt werden konnte, sind inzwischen fest in der Hand von ISIS, jener Al Kaida nahen Terrororganisation, die von einer Sharia-Diktatur vom Irak bis an das Mittelmeer phantasiert.
ISIS, das ist Terror pur. Wer sich ihr nicht unterwirft, der wird gefoltert, zum Tode verurteilt und nicht selten öffentlich hingerichtet. Händler, die während des Freitagsgebets ihre Geschäfte nicht schließen, lassen diese selbsternannten Scharfrichter über Gute und Böse auspeitschen, auch das in aller Öffentlichkeit.
„Die schrecken vor nichts zurück“
Erst in der vergangenen Woche mussten Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ihr Krankenhaus nahe des Grenzübergangs Bab al-Salam Hals über Kopf evakuieren und in die Türkei fliehen, erzählte uns ein syrischer Mediziner im türkischen Kilis, weil Kämpfer der ISIS angerückt waren: „Die schrecken vor nichts zurück. Patienten werden in ihren Betten ermordet, allein der Verdacht der Freien Syrischen Armee, der eher weltlich orientierten Oppositionsgruppe, anzugehören reicht aus.“ Die schwerkranken Patienten hätten sie in die Türkei mitnehmen können, die übrigen nachhause geschickt. Was aus denen geworden sei, wollen wir wissen. Der Arzt zieht nur hilflos die Schultern hoch.
„ISIS sucht auch mich“, Dr. Ammar sagt dies so gelassen, als ginge es um die unangenehme Begegnung mit einem unfreundlichen Nachbarn: „und wenn sie mich finden, dann bringen sie mich um.“ Viel lieber als über sich zu reden, erzählt er vom Elend in Aleppo, dem Mangel an allem, an Lebensmitteln, an Medikamenten, an Diesel, obwohl die Totalblockade noch gar nicht begonnen hat. Er zeigt uns auf seinem Mobiltelephon Bilder, die fassungslos machen: Kindern, denen Granaten und Fassbomben - Assads neueste Terrorwaffe – die Beine oder Arme abgerissen haben. Er bekommt Tränen in die Augen, als er eingestehen muss, dass er kaum etwas für diese kleinen Opfer tun kann: „Selbst die fürchterlichsten Schmerzen kann ich kaum lindern, wir haben nur wenige Sedativa. Sie sterben, ohne richtig gelebt zu haben.“
In der türkischen Grenzstadt Reyhanli haben wir Dr. Ammar getroffen, in einem Haus, in dem seine Frau mit der kleinen Tochter und seinen Eltern lebt. Alle zwei Monate kommt er hierher für ein paar Tage. Um sich vom Aleppostress zu erholen, behauptet er. Um Hilfe für Aleppo neu zu organisieren, wiederspricht ihm heftig seine Frau. Tatsächlich geht ständig sein Mobiltelephon. Selbst aus Kanada kommen die Anrufe, Dr. Ammar hat viele Freunde, die ihn unterstützen wollen. Doch es reicht kaum, die Not in Aleppo zu lindern.
Assad lässt Krankenhäuser bombardieren
Und selbst wenn die Krankenhäuser gut ausgestattet wären, es würde den Ärzten von Aleppo nur wenig nützen. Denn Assad lässt ihre Lazarette regelmäßig aus der Luft angreifen und zerstören. Luftabwehrraketen gegen die Kampfflugzeuge haben die Kämpfer nicht. Die Stadt ist dem Terror von oben hilflos ausgeliefert. „Warum richten eure Politiker keine Flugverbotszone ein? Wo ist Eure Menschlichkeit? Dein Außenminister erlaubt Assad, dass er Krankenhäuser bombardiert. Warum lässt er das zu?“ Ammar redet sich in Rage, als er auf die Hilflosigkeit der westlichen Syrienpolitik zu sprechen kommt. Und man kann ihm kaum widersprechen.
Gerade sind die Verhandlungen in Genf zu Ende gegangen. Ohne Ergebnis. Fast 6000 Menschen waren allein während der zwei Verhandlungsrunden im Januar und Februar in Syrien ums Leben gekommen. Über 140 000 sollen es inzwischen insgesamt sein. Immerhin hatten während der Gespräche der Rote Halbmond und die UN ungefähr 1400 Menschen aus der seit 15 Monaten belagerten Stadt Homs evakuiert können, ausgemergelt vom Hunger, gezeichnet von der Todesangst, in der sie gelebt hatten. Noch immer sind in der völlig zerstörten Stadt ein paar tausend Menschen eingeschlossen, Kämpfer wie Zivilisten.
Reichen sich Assad und Islamisten die Hand?
Homs gibt eine Ahnung davon, was Aleppo möglicherweise bevorsteht, wenn der Belagerungsring erst einmal geschlossen ist. Ammar rechnet fest damit. Jetzt nachdem die Genfer Verhandlungen gescheitert sind, müsse Assad auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Es fehlten nur noch zwei bis drei Kilometer; dann könnten sich die syrische Armee und die Terrororganisation ISIS die Hand reichen, sagt er. Wie bitte? Verkehrte Welt oder verdrehtes Denken?
Nicht nur er, fast alle Syrer, die wir auf unserer Reise an die syrische Grenze gesprochen haben, gehen davon aus, dass ISIS und Assads Armee gemeinsame Sache machen. Und manches spricht tatsächlich dafür, dass dies mehr ist als nur eine aus der Verzweiflung geborene Verschwörungstheorie. Dazu gehören die Blockade der Versorgungsstraßen aus der Türkei oder der brutale Kampf von ISIS gegen andere Oppositionsbrigaden, der das Köpfen von Gefangenen mit einschließt. Dieser Terror schädigt die Opposition und nützt Assad. Schließlich wird oft noch das Phänomen genannt, dass von ISIS besetzte Städte wie Azaz von der Luftwaffe Assads angeblich nicht bombardiert werden. Zwischen Assad und Al Kaida also so etwas wie ein heimliches Zweckbündnis? Ammar und viele Syrer glauben fest daran. Er beeilt sich noch zu sagen: „Auch auf unserer Seite (der Opposition, die Red.) gibt es Verbrechen, die durch nichts zu entschuldigen sind.“
Dr. Ammar, der Arzt von Aleppo, wird dieser Tage wieder in seine Stadt zurückkehren. Auf Schleichwegen. Immer in der Gefahr von ISIS-Terroristen oder Scharfschützen Assads entdeckt zu werden. „Ich kann nicht anders“, erklärte der Dreiunddreißigjährige seiner Frau, „die Menschen dort brauchen mich, besonders dann, wenn die Belagerung beginnt.“ „Und die? Die braucht Dich nicht?“ Mariam, seine Frau, deutet auf die zweijährige Tochter.