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„Das Initiativrecht hat eine ganz entscheidende Bedeutung für das Europaparlament.“

Vor ihrer Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin stellte Ursula von der Leyen dem Europaparlament mehr Kompetenzen in der Gesetzgebung in Aussicht. Davon will sie inzwischen nichts mehr wissen. Vize-Parlamentspräsidentin Katarina Barley will sich das nicht gefallen lassen.
von Kai Doering · 26. März 2020
Erst am Ziel, wenn das Europaparlament die vollen Rechte hat: Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley
Erst am Ziel, wenn das Europaparlament die vollen Rechte hat: Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley

Fühlen Sie sich als Mitglied des Europaparlaments als vollwertige Abgeordnete?

Natürlich! Europaabgeordnete sind vollwertige Abgeordnete, auch wenn das Europaparlament im Vergleich zu den nationalen Parlamenten einige Besonderheiten hat.

Welche sind das?

Die Europäische Union ist kein feststehendes Gebilde, sondern hat sich über viele Jahrzehnte entwickelt und tut das nach wie vor. Das gilt genauso für das Europäische Parlament. In seiner Anfangszeit wurden die Abgeordneten noch nicht mal gewählt, sondern von den Mitgliedsstaaten entsandt. Im Vergleich dazu sind wir in den vergangenen Jahrzenten wirklich weit gekommen – auch wenn wir erst am Ziel sind, wenn wir die vollen Rechte eines Parlaments haben.

Das entscheidendste Recht wäre sicher das Recht, eigene Gesetzesinitiativen starten zu können, was bisher der Kommission vorbehalten ist. Welche Bedeutung hat dieses Initiativrecht für den Wert des Europaparlaments?

Das Initiativrecht hat eine ganz entscheidende Bedeutung für das Europaparlament. In der EU haben wir zwar nicht das klare Gegenüber von Parlament und Regierung wie etwa in Deutschland, wo ein Teil des Bundestags die Regierung trägt und der andere Teil die Opposition bildet. Das Gesetzgebungsverfahren ist auch unterschiedlich.

Entscheidend ist etwas anderes: Als Europaparlament sind wir häufig deutlich fortschrittlicher als die Kommission und der Europäische Rat der Mitgliedsstaaten. Doch obwohl wir häufig gute Beschlüsse fassen, können wir die Kommission bisher lediglich auffordern, selbst einen Entwurf vorzulegen. Wir können aber nicht den Gesetzgebungsprozess aktiv in Gang setzen – und das als einziges europäisches Organ, das direkt gewählt ist. Deshalb wollen wir das dringend ändern.

Ursula von der Leyen hat vor ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin mit dem Versprechen geworben, auf jeden Vorschlag, der vom Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder verabschiedet wurde, „mit einem Gesetzgebungsakt antworten“ zu wollen, dem Parlament als de facto ein Initiativrecht zuzugestehen. Welche Rolle hat das Versprechen für ihre Wahl gespielt?

Ich kann mir schon vorstellen, dass diese Aussage Ursula von der Leyens entscheidend für ihre Wahl gewesen ist, denn der Wunsch nach einem Initiativrecht des Parlaments ist in allen demokratischen Fraktionen sehr groß. Sie hat vor ihrer Wahl zugesagt, dass sie sich Vorschläge, die im Parlament eine Mehrheit gefunden haben, als Initiative der Kommission zu eigen machen wird. An diesem Versprechen messen wir sie.

Nun heißt es, die Kommission wolle Gesetzeswünsche des Parlaments lediglich „erörtern“. Von zu eigen machen ist also keine Rede mehr. Fühlen Sie sich als Abgeordnete verschaukelt?

Ich habe Ursula von der Leyen nicht gewählt, weil ich das Spitzenkandidatenprinzip für ganz entscheidend halte, das durch ihre Kandidatur nicht gewahrt geblieben ist. Insofern trifft mich dieser Schwenk nicht persönlich, aber von vielen Kolleginnen und Kollegen weiß ich, dass ihre Aussagen ein ganz zentraler Punkt für ihre Wahlentscheidung gewesen ist. Deshalb bin ich sehr gespannt, wie das Parlament auf diese Veränderung reagieren wird.

Welche Möglichkeiten hat das Europaparlament denn überhaupt, etwas dagegen zu unternehmen?

Die EU-Kommission und Ursula von der Leyen sind in vielen Punkten auf die Mitwirkung des Europaparlaments angewiesen, vor allem bei der Gesetzgebung. Das bedeutet im Klartext: Für alles, was sie mit der Kommission durchsetzen möchte, braucht sie uns Parlamentarier. Deshalb glaube ich, dass in dieser Frage das letzte Wort auch noch nicht gesprochen ist.

Haben Sie einen Verdacht, was zum Umschwenken bei Ursula von der Leyen geführt haben könnte?

Da kann ich nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten scheint mir aber, dass die Staats- und Regierungschefs Ursula von der Leyen in diesem Punkt die Gefolgschaft versagen. In der Kommission selbst müsste sie ein solches Vorhaben durchsetzen können, wenn sie davon wirklich überzeugt ist.

In diesem Jahr soll eine „Europäische Konferenz“ starten, bei der Bürgerinnen und Bürger ihre Vorschläge für Reformen der EU einbringen können. Sehen Sie hier noch eine Chance, zu einem Initiativrecht für das Parlament zu kommen?

Abseits von den logistischen Schwierigkeiten einer Konferenz in Zeiten von Corona ist die sogenannte Konferenz zur Zukunft Europas leider ein Beispiel dafür, dass die Kommission bei Veränderungen sehr zurückhaltend ist. Die Vorstellungen des Parlaments, was die Konferenz leisten sollte, gehen deutlich über die der Kommission hinaus. Sie will, ebenso wie der Rat, nicht, dass hier über mögliche Änderungen der Europäischen Verträge überhaupt nur diskutiert wird. Insofern sind meine Hoffnungen eher gering. Aus meiner Sicht macht eine Europäische Konferenz auch keinen Sinn, wenn sie eine reine Showveranstaltung ist. Es wäre schade, wenn es so kommt, denn gerade angesichts der aktuellen Krise brauchen wir eine Debatte darüber, wie die EU in Zukunft besser auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet werden kann und welche Kompetenzen sie dafür braucht.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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