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Das große Geschäft mit der Flucht

Libyen ist einer der Hauptstartplätze für Flüchtlinge übers Mittelmeer Richtung Europa. Dort hausen sie teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen und müssen Geld für die Überfahrt verdienen. Wer scheitert, versucht es wieder – bis er es nach Europa schafft oder ertrinkt.
von Jörg Armbruster · 28. Mai 2015
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Wenn ein Flüchtling aus Eritrea zum Beispiel die libysche Mittelmeerküste erreicht hat, dann atmet er höchstwahrscheinlich auf. Möglicherweise glaubt er, nun das Schlimmste hinter sich zu haben. Zwischen ihm und seinem Sehnsuchtsziel Europa gibt es nur noch Wasser, ziemlich viel Wasser allerdings. Wird schon gut gehen, das mit der Überfahrt. Schlimmer als die Durchquerung der Sahara kann sie ja wohl nicht sein, mag sich der Mann einreden, der sich aus Eritrea oder aus Somalia oder einem anderen afrikanischen Land auf den Weg in einer vermeintlich bessere Zukunft gemacht hat.

Oben auf der Ladung eines Lastwagens hat er gelegen, sich festgeklammert, war durchgeschüttelt worden und hat erlebt, wie andere Flüchtlinge verdursteten oder abstürzten. Tagelang waren sie durch die Sahara gerast, vorbei an Skeletten verstorbener Flüchtlinge. Kaum etwas zu essen, kaum etwas zu trinken. Dann Libyen. Es war einfach. Die Südgrenze des Landes ist unbewacht. Dann aber! Milizen versuchten Flüchtlinge auszurauben. Die Frauen unter den Flüchtlingen? Sie leben besonders gefährdet, sehen doch viele Libyer in ihnen Freiwild.

Schließlich das Mittelmeer. Noch ein lebensgefährlicher Weg liegt vor ihm. Aber soll er jetzt aufgeben?

Geld verdienen für das große Ziel

Hat er noch Geld, dann kann er sich direkt an einen der Schlepper wenden und einen Platz in einem der Boote kaufen.  Ein paar tausend Dollar muss er aber schon in der Tasche haben, billiger bekommt man die Überfahrt  nicht, die für viele tödlich endet. Die wenigsten dürften genügend Geld mitbringen, um die so teure wie gefährliche Passage in einem der Seelenverkäufer zu bezahlen. Also arbeiten. Irgendwas. Auch wenn es der letzte Dreck ist. Nur Geld verdienen für das eine große Ziel. Europa! Es kann Monate dauern, vielleicht sogar Jahre, ehe der Flüchtling genügend für die Überfahrt zusammen gespart hat.

Und ob er jemals wirklich aus Libyen herauskommt, wird immer fraglicher. Denn seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Muamar al Gaddafi  im August  2011 versinkt Libyen immer tiefer im Chaos. Milizen und Stämme haben das Land unter sich aufgeteilt. In Tobruk hat die international anerkannte Regierung ihren Sitz, dort tagt auch das Parlament. Doch wirklich Einfluss haben beide nicht. In Libyens Hauptstadt Tripolis hat sich nämlich eine selbst ernannte Gegenregierung eingerichtet, die über Parlamentsbeschlüsse in Tobruk nur lacht. Die Libyer – untereinander heillos zerstritten.

Jeder will an den Flüchtlingen verdienen

Nur in einem sind sich die meisten einig. Jeder will an den Flüchtlingen verdienen. Möglichst viel. Menschenschmuggler, die ihnen einen Weg nach Europa versprechen, Milizen, die sie erpressen und bei den Schleppern abkassieren und sogar Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ sollen dabei sein. Auch sie sollen kräftig mitverdienen beim großen Geschäft mit den Flüchtlingen.

Ein Geschäft, das sich lohnt. Bis zu eine Million Flüchtlinge sollen in Libyen auf ihre Chance warten, um in Seelenverkäufern nach Lampedusa oder Sizilien überzusetzen, vermuten italienische Behörden.

Kampf um ein besseres Leben

Zwar haben libysche Sicherheitskräfte, sofern sie überhaupt noch handlungsfähig sind, in den letzten Wochen mehrere tausend Flüchtlinge festgenommen und in Lagern interniert. Dort gibt es zwar Essen, Wasser und manchmal sogar ärztliche Versorgung. Doch wer hier eingesperrt ist, hat das Ende seiner Reise erreicht. Die Behörden planen die Aufgegriffenen an die Südgrenze zu transportieren und aus dem Land zu verweisen. Zurück nach Somalia, in den Sudan oder nach Eritrea? Wohl kaum.

Sie werden es wieder versuchen und wenn es nicht klappt dann eben noch einmal. Bis sie Europa erreicht haben oder im Mittelmeer ertrunken sind. Um ein besseres Leben geht es allen. Man sollte aber keinem unterstellen, es gehe ihm um ein bequemeres Leben.

Autor*in
Jörg Armbruster am Stand des vorwärts-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse.
Jörg Armbruster

war langjähriger ARD-Korrespondent für den Nahen Osten.

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