Das Dilemma der Linken bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich
Es ist das uralte Dilemma zwischen Kopf und Herz, das die sozialistischen Wähler vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am Sonntag umtreibt. Der frühere Regierungschef Manuel Valls brachte es Ende März auf den Punkt: „Ich werde für Emmanuel Macron stimmen. Das ist keine Frage des Herzens, sondern der Vernunft“, sagte der kantige 54-Jährige in einem Fernsehinterview. Der Grund? „Es gibt das Risiko eines Siegs des Front National.“ Dessen Kandidatin Marine Le Pen liegt seit Monaten stabil über 20 Prozent in den Umfragen. Und die sozialistische Wählerschaft erinnert sich noch gut an den 21. April 2002, als ihr Kandidat Lionel Jospin überraschend in der ersten Runde ausschied und der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen gegen den konservativen Jacques Chirac in der Stichwahl stand.
Vier Kandidaten haben Chancen auf die Stichwahl
In diesem Jahr hat sich laut den Umfragen eine Vierergruppe aus Le Pen, Macron, dem konservativen Ex-Premier François Fillon und dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon abgesetzt, ohne dass klar ist, wer es in die Stichwahl schafft. Nachdem Macron und Le Pen lange deutlich vor den anderen Kandidaten lagen, haben sich in den vergangenen Wochen Mélenchon und der durch eine Affäre um Scheinbeschäftigung belastete Fillon an das Spitzenduo herangerobbt. Eine Ausgangslage, wie es sie noch nie gab.
Im Wahlkampf ist deshalb viel vom „nützlichen Votum“ die Rede, jener Stimme der Vernunft, die ein Duell der Extreme wie das von Le Pen gegen Mélenchon verhindern soll. Oder eine Stichwahl zwischen Le Pen und Fillon, die für die Linke eine Neuauflage des 21. April 2002 wäre. Anders als 2002 ist das Ausscheiden des sozialistischen Kandidaten am Sonntag allerdings keine Überraschung mehr, sondern bereits jetzt ausgemachte Sache: Benoît Hamon liegt in Umfragen nur noch bei acht Prozent.
Hollandes Wähler schwenken zu Macron über
Angesichts dieses Szenarios wirbt Ex-Wirtschaftsminister Macron offen mit dem „vote utile“, das ihn zum Präsidenten machen soll. „Durch die Schwäche von Hamon könnte die Perspektive einer Stichwahl von François Fillon gegen Marine Le Pen das nützliche Votum der linken Wählerschaft beflügeln“, schreibt die Zeitung „Le Monde“. 42 Prozent der Wähler, die 2012 für den sozialistischen Präsidenten François Hollande stimmten, wandten sich laut dem Meinungsforschungsinstitut Ifop inzwischen Macron zu. Der 39-Jährige, der sich als „weder rechts noch links“ versteht, punktet damit klar gegen Hamon, dem nur 19 Prozent der Hollande-Wähler ihre Stimme geben wollen. Dem blassen Ex-Minister droht ein ähnlich schlechtes Ergebnis wie zuletzt Gaston Deferre, der 1969 für die Sozialisten nur fünf Prozent holte.
Um ein solches Debakel zu verhindern, versammelte Hamon am Mittwoch auf dem Pariser Platz der Republik rund 20.000 Anhänger zu seiner Abschlusskundgebung, in der er bereits eine Bilanz seines Wahlkampfes zog. „Ich habe die Linke auf ihre historische Achse zurückgebracht“, sagte der 49-Jährige. Die sieht der Kandidat deutlich weiter links als Hollande, der als Präsident einen eher sozialdemokratisch geprägten Kurs fuhr. Doch das Feld links außen ist auf der politischen Landkarte bereits von einem anderen Mann besetzt, der deutlich charismatischer ist als Hamon: Jean-Luc Mélenchon. Der Kandidat der Bewegung „La France insoumise“ (Das aufmüpfige Frankreich) versammelte am 18. März ebenfalls auf dem Platz der Republik mehr als 100.000 Menschen.
Gefahr für Europa durch Le Pen und Mélenchon
Zwischen dem Volkstribun, der gerne gegen Deutschland hetzt, und dem sozialistischen Außenseiter bestehen viele Gemeinsamkeiten, vor allem in den Themen Umweltschutz und Energiepolitik. Doch Mélenchon will im Gegensatz zu Hamon die EU-Verträge neu verhandeln und im Falle eines Scheiterns ganz aussteigen. Damit rückt der 65-Jährige in die Nähe zu Marine Le Pen, die offen mit einem Rückzug aus dem EU wirbt. „Le Pen, Mélenchon: dieselbe Gefahr für Europa“, warnt „Le Monde“. Eine Gefahr, die kein Meinungsforscher wirklich ausschließen kann.
Christine Longin begann ihre journalistische Laufbahn bei der Nachrichtenagentur AFP, wo sie neun Jahre lang die Auslandsredaktion leitete. Seit vier Jahren ist sie Korrespondentin in Frankreich, zuerst für AFP und seit Juli für mehrere Zeitungen, darunter die Rheinische Post.