Darum setzt die türkische Opposition auf Konsens mit Erdoğan
Ein historischer Auftritt, jubelte die türkische Presse, der Beginn einer neuen, geeinten Türkei. Tatsächlich trauten viele Türken ihren Augen kaum, als bei einer Massenkundgebung in Istanbul zum Andenken an die Todesopfer des Putschversuches nicht nur Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP-Regierung, sondern auch die Führer der republikanischen Volkspartei CHP und der ultrarechten MHP vor ein Millionenpublikum traten. Einzige Schönheitsfehler: die pro-kurdische Oppositionspartei HDP war nicht geladen. Die Regierung wirft ihr Nähe zur Terrororganisation PKK vor. Die CHP hatte ihre Teilnahme hingegen offen gefordert – vergeblich.
Aussöhnung in der Türkei?
Trotz dieser Ausgrenzung wird das Bild eines geeinten Landes kräftig verbreitet. „Die Türkei hat einen noch nie dagewesenen Gesellschaftsvertrag erreicht. Wir werden ihn mit Samthandschuhen anfassen“, erklärte Regierungschef Binali Yıldırım. Und auch CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu betonte zeitgleich, die Gesellschaft brauche nun dringend Einheit und Aussöhnung.
Dabei zählte vor allem die CHP, die Schwesterpartei der SPD, in den letzten Jahren zu den schärfsten Kritikern des Erdoğan-Regimes und warf dem Staatpräsident einen immer autoritäreren Kurs vor. Der Ton zwischen beiden Seiten war hart, die Fronten verhärtet. Erdoğan setzte auf gesellschaftliche Polarisierung, überzog tausende seiner Kritikern in den letzten Monaten mit Klagen wegen Präsidentenbeleidigung. So auch viele CHP-Politiker wie den Parteivorsitzenden Kılıçdaroğlu, weil der ihn einen „Möchtegern-Diktator“ genannt hatte.
Die Opposition zu Gast bei Erdoğan
Doch all das scheint in diesen Tagen vergessen. Rund 1500 Klagen wegen Präsidentenbeleidigung zog Erdoğan Ende Juli zurück, ein deutliches Zugeständnis an die Opposition. Zudem lud er MHP-Chef Devlet Bahçeli und CHP-Chef Kılıçdaroğlu zu einem Treffen in seinen Palast. Obwohl Kılıçdaroğlu jahrelang betont hatte, diesen illegal errichteten Protzbau niemals zu betreten, folgte er dem Ruf. Erdoğan wiederum bat Kılıçdaroğlu inständig, an der Istanbuler Massenkundgebung teilzunehmen, nachdem dieser zunächst verkündet hatte, der Veranstaltung fernzubleiben; ausgesprochen ungewohnte Töne des ansonsten so reizbaren Staatsoberhauptes.
Doch Erdoğan scheint in diesen Tagen ein breites Bündnis zu benötigen – denn der Staatsapparat ist geschwächt, der Loyalität des Militärs kann er sich nicht mehr sicher sein. Zudem braucht er breite gesellschaftliche Unterstützung für die ausufernden Säuberungsaktionen, bei denen tausende Staatsbedienstete entlassen und inhaftiert wurden, aber auch Geschäftsleute, Journalisten und Anwälte ins Visier der Justiz geraten. Ihnen allen wird Verbindung zur Gülen-Bewegung vorgeworfen, eine Bruderschaft des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, die die Regierung für den Putsch verantwortlich macht.
CHP warnt vor Schwächung des Parlaments
Dieser Unterstützung kann sich die Regierung durch die größte Oppositionspartei sicher sein. Schon früh verurteilte die CHP den Putschversuch als Angriff auf die Demokratie und eine gewählte Regierung. Nur vorsichtig mahnte sie bisher an, die Verfahren gegen Putsch-Verdächtige im Rahmen des Rechtsstaates zu führen und den dreimonatigen Ausnahmezustand nicht zur Schwächung des Parlamentes zu nutzen.
Die momentane Verfolgung der Gülen-Bewegung dürfte so manche CHP-Anhänger freuen: schließlich hatten Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter zwischen 2007 und 2013 hunderte hochrangige säkulare Militärs, Politiker, Geschäftsleute und Journalisten hinter Gitter gebracht. Ihnen wurde die Errichtung geheimen Staates im Staate und die Planung eines Putsches zum Sturz der AKP-Regierung vorgeworfen. Was als ambitioniertes Verfahren begann, entpuppte sich mit den Jahren als ausufernde Hexenjagd gegen Regierungskritiker. Die Parallelen zu den heutigen Zuständen sind unübersehbar – nur mit umgekehrten Vorzeichen.
So nutzte Kılıçdaroğlu die Istanbuler Großdemo, um sich für die Rehabilitierung der Opfer dieser Hexenjagd einzusetzen. Dass die AKP-Regierung und allen voran Erdoğan jahrelang diese Prozesse unterstützen, sprach er nicht an. Ohnehin hält er sich in diesen Tagen mit Kritik an der Regierung zurück. Ob aus Angst oder um die fragile Stimmung nicht zu gefährden – das wird bei seinen Anhängern kontrovers diskutiert.
Moscheen, Kasernen und Gerichte frei von Politik
Seine politischen Forderungen hielt Kılıçdaroğlu bei der Kundgebung dementsprechend allgemein. Er verlas den 12-Punkte Fahrplan seiner Partei für die Zukunft des Landes, den er bereits eine Woche zuvor auf dem Taksim-Platz vor hunderttausenden von Anhängern verkündet hatte. Schon der erste Punkt lässt aufhorchen: „Lassen wir die Moscheen, Kasernen und Gerichtshöfe frei von Politik. Wenn wir sie in die Moscheen bringen, spalten wir die Gesellschaft. Wenn wir sie in die Justiz lassen, werden wir keine Gerechtigkeit finden. Wenn wir sie in die Kasernen lassen, können wir Putsche nicht verhindern.“ Ein klares Bekenntnis zu Säkularismus und Gewaltenteilung, das Kılıçdaroğlu in Folge mehrmals wiederholte. Er forderte freie Presse, unabhängige Justiz und ein Bildungssystem, in dem Schüler hinterfragen statt nur Befehle befolgen. Dieser Fahrplan dürfte in Europa auf großes Wohlwollen stoßen, schließlich hatten nicht nur die CHP sondern auch die EU gerade diese Punkte in den letzten Jahren immer wieder angeprangert.
Zuletzt betonte Kılıçdaroğlu einen Spruch des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürks: „Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation“. Diese Worte prangen seit dem gescheiterten Putschversuch auf tausenden Plakatwänden im ganzen Land - aber nicht auf Initiative der CHP, sondern der islamisch-konservativen AKP-Regierung. Dabei scheut die AKP Referenzen an Atatürk, der die Trennung von Staat und Religion in der Verfassung verankerte, eigentlich wie der Teufel das Weihwasser. Doch für das breite Bündnis dieser Tage ist die weitverbreitete Liebe zu Atatürk und seinem Nationalismus ein willkommener gemeinsamer Nenner. Ob dieser Kurs stärker sein wird als die vielen „Allah ist groß“-Rufe auf den Plätzen der Republik der letzten Wochen, werden die kommenden Monate zeigen. Erdoğan hat es in der Hand – und die Opposition will nicht die historische Chance verpassen, daran mitzuwirken.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.