Darum ließ Putin die Ukrainerin Sawtschenko wirklich frei
Die wegen „Beteiligung am Mord des russischen Journalisten“ zu 22 Jahre Haft verurteilte ukrainische Fliegerin Nadija Sawtschenko ist wieder frei. Am 25. Mai 2016 kehrte sie mit der Präsidentenmaschine Petro Poroschenkos nach Kiew zurück und wurde im Flughafen von einer jubelnden Menschenmenge empfangen.
Offiziell führt Putin humanitäre Gründe an
Wladimir Putins Begnadigungserlass liefert folgende Erklärungen für die Freilassung der Ukrainerin: eine Bitte der Angehörigen von verstorbenen Journalisten sowie humanitäre Gründe. Die Entscheidung fiel anscheinend auf der nächtlichen Sitzung des deutsch-französisch-ukrainisch-russischen Normandie-Quartetts. Im Gegenzug entließ Kiew zwei in der Ostukraine verhaftete mutmaßliche russische Soldaten Aleksandr Aleksandrow und Jewgenij Jerofejew.
Die ukrainische Gemeinschaft hatte die Freilassung Sawtschenkos seit dem Zeitpunkt ihrer Festnahme und Auslieferung an Russland weltweit verlangt und dabei eine öffentliche Unterstützung der westlichen Politiker genossen. US-Präsident Barak Obama hatte sich für die Ukrainerin in seinem jüngsten Telefonat mit Putin eingesetzt.
Frank-Walter Steinmeier: "Freude und Erleichterung"
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach gestern über seine „Freude und Erleichterung“ in Bezug auf die Heimkehr der ukrainischen Pilotin und betonte eine „lange Arbeit“ für diese „gute Nachricht“. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini feierte die Heimkehr Sawtschenkos „zusammen mit der Ukraine“.
Die russischen Politiker kommentierten das Ereignis dagegen sparsam. Der stellvertretende Duma-Präsident Igor Lebedew meint, die Freilassung Sawtschenkos sei der erste Schritt zur Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. National-konservative Medien des Landes sind voll Sorge und sprechen von der „Niederlage Putins“ und „Bedrohung für Donbass“.
Kritik des Westens beeindruckt Putin nicht
Diese Überraschungsaktion lässt jedoch viele Fragen offen. Noch Anfang Mai waren selbst die Anwälte Sawtschenkos hinsichtlich der Freilassungsprognose für ihre Mandantin uneinig. Während ein Anwalt die Entlassung Sawtschenkos in Aussicht stellte, schloss sein Kollege diese Option aus. Ohne die Wirkung des internationalen Drucks auf Moskau zu bagatellisieren, lässt sich Putin von der verbalen Kritik aus Brüssel und Washington kaum einschüchtern und fährt seinen Kurs weiter.
Auch Taten erwiesen sich als beschränkt effektiv. Die Sanktionspolitik kostete zwar Russland mehrere Milliarden Euro, führte dessen ungeachtet nicht zur entscheidenden Strategiewende des Kremls im Ukraine-Konflikt. Sicherlich sucht die russische Führung aus einer rein pragmatischen Erwägung die Deeskalationswege, betrachtet aber offenbar jedes eigene Zugeständnis als ein Zeichen der Schwäche.
Politisch verfolgte Ukrainer in russischen Gefängnissen
Dazu kommt noch, dass weitere, von den Menschenrechtsorganisationen als politisch verfolgt anerkannte Ukrainer ihre Strafe in den russischen Gefängnissen abbüßen, wie der Filmregisseur Oleh Sencow, der linke Aktivist Oleksandr Koltschenko und der Rentner Jurij Soloschenko. Im Gegensatz zu Sawtschenko wurden sie nicht zu Nationalhelden gekrönt. Soloschenko ist ein krebskranker 73-Jähriger, so wäre im Fall seiner Freilassung eine humanitäre Komponente ersichtlich.
Auch die Rückkehr von russischen Staatsbürgern wird in der Presse Russlands nicht sonderlich gefeiert. Auf dem Flugplatz wurden sie nur von ihren Familien begrüßt. Der Kreml-Pressesprecher Dmitrij Peskow berichtete, dass ein Treffen mit zwei Heimkehrern nicht auf der Tagesordnung des russischen Präsidenten stehe. Die russische Öffentlichkeit sah diese Vereinbarung eher skeptisch. Laut einer Umfrage vom März 2016 begrüßte nur 28% der befragten Russen einen möglichen Austausch.
Putin will mehr Einfluss auf Ukraine
Warum hat Putin dennoch ausgerechnet Sawtschenko befreit? Moskau hofft immer noch, seine Einflusssphäre auf die Ukraine auszudehnen. Es nimmt verschiedene Gruppen innerhalb der ukrainischen Elite ins Visier. Sawtschenko, in ihrer Heimat zur Ikone des Wiederstands stilisiert, kann durchaus zu einer bedeutenden Figur der ukrainischen Politik werden. Sie wurde bei der Parlamentswahl 2014 für den ersten Listenplatz der Vaterlandspartei von Julia Tymoschenko nominiert und ist seitdem Rada-Abgeordnete. Sawtschenko, Trägerin der höchsten Staatsauszeichnung „Heldin der Ukraine“, gewinnt als standhafte und korruptionsfreie Verteidigerin des Heimatlandes an Popularität im Kreis der politisch frustrierten Landsleute. Ihr Bild ist zum festen Bestandteil der politischen Kundgebungen geworden. Poster, T-Shirts und Plaketten mit „unserer Nadija“ (Nadija steht im Ukrainischen außerdem für „Hoffnung“) gehörten zu den meistverkauften Werbeartikel im Land. The Sunday Times brachte sie sogar in Hinblick auf die künftige Präsidentschaft ins Gespräch. Bereits auf der gestrigen Pressekonferenz zeigte sich Sawtschenko als rhetorisch begabte und glaubhaft wirkende Politikerin.
Vermutlich versucht Putin durch die Freilassung Sawtschenkos mehrere Ziele zu erreichen. Poroschenko erklärte die Heimkehr der Pilotin zur Chefsache und machte sich damit wider Willen von seinem russischen Gegenspieler abhängiger oder potentiell kompromissbereiter. Formell kam der ukrainische Präsident als großer Gewinner zurück nach Kiew. Ohne Zweifel war seine Handlung eine gute humanitäre Geste.
Probleme für Poroschenko und Tymoschenko
Aus der politisch-pragmatischen Perspektive ist seine Position schwächer geworden. Die Stärke Poroschenkos besteht darin, dass er in der kriegsmüden Ukraine für die Einhaltung des Minsker Abkommens steht. Dafür wird er geschätzt und von Zweiflern toleriert. Die Kriegsteilnehmerin Sawtschenko plädiert ebenfalls für weitere Verhandlungen der Konfliktparteien auf der Minsk-2-Grundlage und wird in der Bevölkerung als authentischer wahrgenommen.
Darüber hinaus bekommt jetzt die Fraktionsvorsitzende Tymoschenko eine mächtige Kontrahentin, die die 2015 stattgefundene Annäherung zwischen der Vaterlandspartei und der radikal-nationalistischen Freiheitspartei nicht gutheißen wird.
Karten in der Ukraine werden neu gemischt
Nicht zuletzt verrät die neueste Rede Putins seine Ansichten: er lobte ausdrücklich die Vermittlungsbemühungen von Wiktor Medwedtschuk, dem ehemaligen Präsidialamtsleiter unter Präsident Leonid Kutschma und einer der letzten aktiven prorussischen Politiker in der Ukraine. Mit großer Wahrscheinlichkeit bemüht sich Moskau, neue Netzwerke im Nachbarland aufzubauen und alte zu beleben. Der Einstieg Sawtschenkos in die ukrainische Politik wird die Karten neu mischen und die etablierten Akteure herausfordern.