Barack Obama hat in seiner Siegesrede ein Amerika beschworen, das es nicht gibt.
Ein Amerika, das es vermutlich auch in vier Jahren, am Ende seiner zweiten und letzten Amtszeit, nicht geben wird. Ein tolerantes Amerika, das über alle inneren Gräben hinweg zusammensteht. Das keine Angriffskriege führt, schonend mit der Natur umgeht und in dem nicht das Geld regiert, sondern die Hoffnung der Gründungsväter: ein Land, in dem jeder sein Glück machen kann, unabhängig von Herkunft, Reichtum, Hautfarbe, Geschlecht und Glauben. Ein Land, so Obama, „nicht geschwächt durch Ungleichheit“.
Ja, das wäre schön. Entsprächen die USA diesen Bild, wären sie wieder der Leuchtturm für Freiheit und Demokratie. Dann öffneten sie ihre Grenzen, statt sie zu verrammeln, ließen sie nicht ihre Schulen verkommen, sendeten sie Peace Corps nach Pakistan anstelle von Drohnen, wäre das Lager in Guantanamo längst aufgelöst worden.
Er habe gelernt, hat Obama am Mittwochmorgen in Chicago versichert. Aus den Fehlern seiner ersten Amtszeit. Vor allem aber „von Euch“. Das war natürlich, wie Amerikaner sagen, vor allem „flattery“. Doch die Schleimerei enthält einen wahren Kern. Der Präsident wäre nicht wiedergewählt worden, hätte die große Mehrheit vor allem der jüngeren Amerikaner nicht die von ihm beschworenen Werte ernster genommen als er selbst. Sie waren enttäuscht, weil die Regierungswirklichkeit von Obama I weit hinter dem Pathos der Reden von Wandel und Hoffnung („Yes, we can!“) zurückgeblieben ist. Aber sie sind darüber nicht zynisch geworden, haben nicht resigniert. Sie haben Amerikas von allzu viel Geld und professionellem Zynismus verseuchter Demokratie neues Leben eingehaucht: durch unermüdliches Engagement.
Obama machte aus seiner Siegesrede streckenweise eine Vorlesung über das Wesen der Demokratie. Ja, in den USA werde heftig gestritten, aber das gehöre dazu. Am Ende gehe es darum, Kompromisse zu schließen. Nicht zu fragen, was die Politik tun könne – und darüber zu mosern, was ihr misslinge, entspreche dem Geist der „Selbst-Regierung“, sondern die Bereitschaft, selbst etwas zu tun, mitzumachen. Obama, jetzt fast wieder der alte politische Prediger, rief auf zu „Liebe, Nächstenliebe, Pflicht und Patriotismus“.
Abgesehen vom für Deutsche der Jetztzeit ungewohnten Pathos hielt Obama eine sozialdemokratische Rede, imaginierte er ein sozialdemokratischeres Amerika. „Forward“ – vorwärts, war sein Wahlslogan. Lesern dieser Website musste er bekannt vorkommen. Am Mittwochmorgen mahnte Obama zudem die Kraft der Solidarität an. Er sprach von dem, was Amerikaner zusammenhalte, warb für die Vorzüge einer solidarischen Krankenversicherung, von der Notwendigkeit, die Erde für unsere Nachfahren zu erhalten, einander zu helfen – wie in einer „Familie“.
Die Republikaner werden sich gut überlegen müssen, ob sie die ausgestreckte Hand des wiedergewählten – und erstarkten – Präsidenten erneut ausschlagen wollen. Vor vier Jahren war ihr einziges Ziel: Obamas Wiederwahl zu verhindern. Jetzt müssen sie sich etwas Neues einfallen lassen. Das Wahlergebnis spricht eine klare Sprache: Amerikaner, die denken wie Obama spricht, sind auf dem Vormarsch; sie werden mehr. Die oft erschreckend hasserfüllten, sich in ein Wildwest-Amerika zurücksehnenden Tea-Party-Wähler altern dahin. Dort liegt die Zukunft nicht.
„Ein Jahrzehnt des Krieges endet“, auch das versprach Obama. Eine gute Nachricht für alle, die befürchten mussten, dem „Krieg gegen den Terror“, dem Kriegen in Afghanistan und Irak werde jetzt womöglich einer gegen Iran folgen. Obama II hat die Kraft, Kriegstreibern in den Arm zu fallen. Diese Kraft haben ihm Amerikas junge Wähler eingehaucht. Danke, Amerika!
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