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Corona: Wie erfolgreich ist der Sonderweg in Schweden?

Kitas und Schulen geöffnet, keine Maskenpflicht: Schweden hat sich im Umgang mit Corona für einen Sonderweg entschieden. Das hat unterschiedliche Gründe. Die bisherigen Ergebnisse zeigen Licht und Schatten.
von Christian Krell · 24. August 2020
Appelle statt Verbote: Schweden setzt im Kampf gegen das Corona-Virus auf die Vernuft der Bürger*innen.
Appelle statt Verbote: Schweden setzt im Kampf gegen das Corona-Virus auf die Vernuft der Bürger*innen.

Schweden hat in der Coronakrise einiges anders gemacht als die meisten anderen Staaten Europas. Viele Länder Europas haben mit einem harschen Lockdown versucht, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Schulen, Geschäfte, Büros, Kinos und Gaststätten blieben geschlossen, mitunter war das Verlassen der eigenen vier Wände nur mit behördlicher Genehmigung möglich. Nicht so in Schweden. Verboten waren hier zwar Besuche in Alten- und Pflegeheimen und Veranstaltungen über fünfzig Personen. Aber Kitas und Schulen blieben geöffnet, Geschäfte sowieso, auch kleinere Theater konnten ihre Programme aufführen, in den Clubs konnte weiter gefeiert werden, es bestand keine Maskenpflicht. Statt sanktionsbewehrter Verbote gab es vor allem Empfehlungen seitens der Regierung: Im Homeoffice arbeiten, bei Krankheitsanzeichen zu Hause bleiben und ansonsten viel an die frische Luft.

Wie Schweden seinen weniger drastischen Weg begründete

Was im internationalen Vergleich leichtfertig anmutet, wurde immer wieder intensiv begründet – und auch diskutiert. Neben Regierungschef Stefan Löfven war es vor allem der Epidemiologe Anders Tegnell, der erklärte, warum Schweden diesen Weg wählte. Ein weniger drastischer Kurs sei erstens effektiver, weil er länger durchzuhalten sei als ein völliges Runterfahren des öffentlichen Lebens. Die getroffenen Maßnahmen könnten nötigenfalls über mehrere Jahre durchgehalten werden.

Zweitens wurden die gesellschaftlichen Kosten von Schul- und Kitaschließungen angesprochen. Junge Familien und Kinder aus ehedem benachteiligten Gruppen hätten darunter besonders zu leiden. Diesen Preis wolle man nicht zahlen, zumal der Effekt für die Eindämmung des Virus durch die Schulschließungen unklar sei. Drittens dachte Tegnell immer wieder laut und öffentlich darüber nach, dass eine gewisse Ausbreitung des Virus Voraussetzung für eine Grundimmunisierung der Bevölkerung und damit eine Eingrenzung des Virus sei, ohne dass eine „Herdenimmunität“ das erklärte Ziel der Regierung war.

Die Bürger*innen sind diszipliniert

Die Appelle an die Bevölkerung waren dabei erfolgreich: Daten des Google Mobility Report zeigen einen signifikanten Rückgang bei den Aufenthalten am Arbeitsplatz oder der Nutzung öffentlicher Transportmittel. Der Aufenthalt in Parks ist demgegenüber deutlich angestiegen. Die Empfehlungen der Regierung scheinen von den schwedischen Bürger*innen also ähnlich diszipliniert befolgt worden zu sein wie die Regeln in Ländern mit einem strengen Lockdown.

Schweden hat in vergangenen Jahrhunderten durchaus drakonische Maßnahmen bei der Seuchenbekämpfung angewandt. Egal ob Pocken oder Cholera: Die Regierungen haben bei der Eindämmung von Krankheiten hart durchgegriffen. Strikte Quarantäne, Impfpflicht und energisches polizeiliches Handeln prägte die schwedische Medizingeschichte bis in die jüngere Vergangenheit.

Allerdings hat sich korrespondierend mit dem Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert auch ein besonderes Freiheitsverständnis entwickelt. Henrik Berggreen und Lars Tragardh sprechen in diesem Zusammenhang vom „schwedischen Staatsindividualismus“.

Kollektive Lösungen schaffen die Freiheit des Einzelnen

Im Ausbau des schwedischen Sozialstaats wurden immer wieder kollektive Lösungen gesucht. Das Ziel all dieser Maßnahmen war allerdings die individuelle Freiheit. Es ging darum, den/die Einzelne*n durch garantierte Gesundheitsvorsorge, Rentenansprüche, elternunabhängige Studienfinanzierung aus Abhängigkeiten von Familie, Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft zu befreien. Mithin wurde mit kollektiven – oft staatlich organisierten – Lösungen die Grundlage für die Freiheit des Einzelnen geschaffen.

Diese Orientierung geht einher mit einer öffentlichen Debattenkultur, die auf Konsens und Vernunft ausgerichtet ist. Das soziale Vertrauen zwischen den Menschen und das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen sind im internationalen Vergleich hoch. Empfehlungen der Regierung werden deshalb befolgt, auch wenn sie nicht sanktionsbewehrt sind. Allerdings bedeutet das nicht, dass es nicht auch in Schweden eine kontroverse Debatte um den Kurs der Regierung gab, z.B. hinsichtlich des Verzichts auf eine Maskenpflicht.

Viele Single-Haushalt, dünn besiedeltes Land

Die soziale Distanz ist in Schweden vergleichsweise hoch ausgeprägt. Im OECD-Vergleich hat das Land mit 56,6 Prozent den höchsten Anteil an Single-Haushalten – in Deutschland sind es 41,7 Prozent. Das Zusammenleben von mehreren Generationen in einem Haushalt, das die Ausbreitung in Italien oder Spanien begünstigte, ist in Schweden selten. Darüber hinaus ist das Land ausgesprochen dünn besiedelt. In Schweden leben durchschnittlich 25 Menschen auf einem Quadratkilometer, etwa zehn mal weniger als in Deutschland. Nur Stockholm, Göteborg und Malmö können als Metropolen gelten.

Die bisherigen Ergebnisse des schwedischen Sonderwegs sind ambivalent. Zwar sind die absehbaren ökonomischen Folgen der Krise geringer als die in anderen europäischen Ländern, allerdings hat das Land vergleichsweise viele coronabedingte Todesfälle zu beklagen. Mit 54 pro 100.000 Einwohner sind es mehr als in Deutschland, der Schweiz, Frankreich oder den Niederlanden, nur in Spanien und Italien lag die Sterberate im Juli 2020 höher.

Migranten und Ältere sterben überdurchschnittlich oft

Ein genauer Blick auf die Todesfälle offenbart, wie ungleich die Auswirkungen des Virus sind. Die Todesfälle häufen sich vor allem bei Menschen mit Migrationserfahrung und Älteren. Die Erstgenannten leben auch in Schweden oft dicht gedrängt in den Vororten der großen Städte. Der Stockholmer Stadtteil Rinkeby steht sinnbildlich für den Mix aus günstigem Wohnraum, hohem Migrantenanteil und teilweisem Rückzug des Staates. Für die Ausbreitung des Virus waren das perfekte Bedingungen. Entsprechend ist die Übersterblichkeit in solchen Stadtteilen besonders hoch. So liegt zum Beispiel die Zahl der Toten unter den somalischen Einwanderern fünfmal so hoch wie deren Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Dass die Älteren weit überdurchschnittlich zu den Opfern des Virus zählen, wird in der öffentlichen Debatte Schwedens auch auf den Umbau des Sozialstaates zurückgeführt. Seit den 1980er Jahren kam es zu erheblichen Kosteneinsparungen und Umstrukturierungen der Altenfürsorge. Sie wird heute von einer Vielzahl privater Unternehmen durchgeführt, die streng profitorientiert arbeiten. Es ist inzwischen gut dokumentiert, dass diese fragmentierte Struktur die Informationsweitergabe und die Ausstattung mit Schutzausrüstung verzögerte.

Darüber hinaus sind 40 Prozent derjenigen, die in Stockholm häusliche Pflege betreiben, nur prekär auf der Basis von Stundenverträgen beschäftigt. Viele von ihnen hatten gar nicht die Möglichkeit, dem Rat der schwedischen Regierung zu folgen und bei Krankheitssymptomen zu Hause zu bleiben. So konnte sich das Virus gerade bei den Alten rasch verbreiten.

Hat sich der Sonderweg gelohnt?

Die vergleichende Betrachtung weist den Umgang Schwedens mit der Pandemie mithin primär als Produkt der aktuellen Strategie der Regierung und ihrer Berater aus. Gleichzeitig ist sie von den politisch-kulturellen Dispositionen und sozial-räumlichen Gegebenheiten des Landes sowie der Struktur seines Wohlfahrtsstaates nicht zu trennen. Ob sich der Sonderweg gelohnt hat, wird man erst am Ende der Krise genauer beurteilen können. Die Beurteilung wird auch davon abhängen, ob Schweden der besonderen Anfälligkeit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen für das Virus etwas entgegensetzen kann. Maßgeblich dafür dürfte nicht zuletzt die Fähigkeit der Regierung sein, ihre Strategie nach Bedarf an sich verändernde Umstände flexibel anzupassen, die sie in den bisherigen Phasen der Pandemie durchaus eindrucksvoll bewiesen hat.

Der Text ist zuerst in der E-Paperreihe „Demokratie im Ausnahmezustand“ der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienen.

Autor*in
Christian Krell

ist Professor für Politikwissenschaft an der HSPV NRW Köln. Er leitete die Akademie für Soziale Demokratie und das Nordische Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD.  

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