Corona und Brasilien: Für Bolsonaro geht es ums politische Überleben
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Die letzten Wochen werden in Brasilien noch lange nachwirken. Das Corona-Virus breitet sich immer schneller aus, Krankenhäuser sind überfüllt und die Amazonasstadt Manaus muss Nachtschichten anordnen, um in schnell ausgehobenen Gräbern die Toten zu beerdigen. Und nun steckt das Land zusätzlich in einer schweren politischen Krise. Verantwortlich: Präsident Jair Bolsonaro.
Politische Krise nach Rücktritt Moros
Ende April entließ Bolsonaro den Chef der Bundespolizei, Mauricio Valeixo. Wenig später trat Justizminister Sergio Moro zurück, einer der bekanntesten und beliebtesten Politiker des Landes. Anders noch als bei der Entlassung des Gesundheitsministers durch Bolsonaro eine Woche zuvor wiegen die Folgen von Moros Rücktritt schwerer. Sie haben eine bereits schwelende politische Krise enorm verschärft.
Sergio Moro ist das Symbol für den Kampf gegen Korruption in Brasilien, nachdem er als Richter die Aufklärung und Verurteilungen im Korruptionsskandal Lava Jato vorangetrieben hat. Zwar legen Berichte der Investigativplattform The Intercept nahe, dass vor allem die Verurteilung von Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva politisch motiviert war. Das aber hat Moros Ansehen nur im linken Lager geschadet. Im Lager der gemäßigten Rechten dagegen ist er ein Star.
Amtsenthebungsverfahren möglich
In seiner Rücktrittsrede belastet Sergio Moro Bolsonaro schwer: Er wirft Bolsonaro vor, den Wechsel an der Spitze der Bundespolizei aus persönlichen Motiven angestrebt zu haben. Die Gründe sind pikant: Die Polizei ermittelt gegen Söhne Bolsonaros. In einem Fall geht es um ein Fake News-Netzwerk, hinter dem auch Bolsonaros Sohn Carlos stecken soll. Auch Unterschriftenfälschung sowie der Versuch politischer Einflussnahme werden dem Präsidenten zur Last gelegt. Als neuen Polizeichef wollte er nun einen Freund der Familie einsetzen. Dies wurde durch den Obersten Gerichtshof (STF) untersagt. Seit letzter Woche ermittelt das STF gegen Bolsonaro. Ein Amtsenthebungsverfahren könnte daraus folgen.
Die Rufe nach einem Impeachment sind zuletzt deutlich lauter geworden. Neben linken Oppositionspolitikern positionieren sich auch ehemalige Unterstützer Bolsonaros entsprechend. Dass es zu einem solchen Verfahren kommt, ist aber keineswegs sicher. 342 von 513 Abgeordneten müssten dafür stimmen. Mit 30 Parteien ist die Abgeordnetenkammer sehr fragmentiert. Die Parteien sind meist ideologisch wenig verortet, was Mehrheitsverhältnisse unvorhersehbar macht.
Das Abstimmungsverhalten hängt häufig von Gegenleistungen ab. Bolsonaro macht derzeit Avancen, um sich Unterstützung zu sichern. Es gibt Gespräche mit dem sogenannten Centrão, einer fluiden Gruppe konservativer Parteien, die zusammen knapp 200 Abgeordnete in der Kammer stellen. „Argumente“ sich einer jeweiligen Seite anzuschließen, sind nicht zuletzt auch Versprechen für öffentliche Posten. Damit verfolgt Bolsonaro genau jene Politik der Postenvergabe und Gefälligkeiten, die er zuvor kritisierte.
Kampf gegen demokratische Strukturen
Ein Amtsenthebungsverfahren ist zudem langwierig und würde mehrere Monate in Anspruch nehmen. Frühere Impeachment-Verfahren gegen Präsidenten wurden durch einen starken öffentlichen Druck vorangetrieben. Zwar sind laut einer aktuellen Umfrage 56 Prozent der Befragten für eine Amtsenthebung Bolsonaros. Durch Covid-19 sind Demonstrationen aber derzeit unmöglich und ob Umfragen den Druck auf die Politik erhöhen können, ist fraglich. Bolsonaro genießt noch immer Unterstützung bei einem Drittel der Bevölkerung. Umfragen in dieser Phase der Quarantäne sind schwierig, aber sie zeigen doch eine Tendenz: Bolsonaro kann auf einen harten Kern ideologisch Gleichgesinnter und Sympathisanten zählen. Er scheint zwar die Unterstützung der Besserverdienenden und höher Gebildeten verloren zu haben, gleichzeitig aber hat er bei der ärmeren Bevölkerung an Zustimmung gewonnen.
Nach anderthalb Jahren im Amt ist nicht mehr viel übrig geblieben vom Image, das Bolsonaro dorthin brachte: Kampf gegen Korruption und Kriminalität, Einsatz für Wirtschaftswachstum. Bolsonaros neoliberaler Wirtschaftsminister Paulo Guedes wurde zuletzt von den Militärs in der Regierung regelrecht vorgeführt, als ein Investitionsprogramm ohne einen Vertreter seines Wirtschaftsministeriums vorgestellt wurde. Angesichts solcher Probleme kommt eine andere Agenda Bolsonaros immer deutlicher zum Vorschein: Kampf gegen demokratische Strukturen und Institutionen.
Corona breitet sich aus
Bolsonaro hat den öffentlichen Diskurs radikalisiert. Ganz im Zeichen populistischer Vorbilder wird gegen die Presse, den Obersten Gerichtshof oder Abgeordnete gehetzt und offen die Militärdiktatur verherrlicht. Der anti-demokratische Diskurs verfängt bei Teilen der Bevölkerung. Bolsonaro zeigte sich vor frenetisch jubelnden Anhängern, die offen eine verfassungsfeindliche Militärintervention forderten und rief ihnen zu „Ich bin die Verfassung“. Auch wegen dieser Demonstration wird mittlerweile ermittelt.
Das Virus breitet sich währenddessen weiter aus. Wie auch in anderen Ländern, legt es in Brasilien soziale Disparitäten offen. Im regionalen Vergleich ist das Gesundheitssystem Brasiliens trotz der Einsparungen der letzten Jahre relativ gut ausgestattet. Es steht aber nicht allen in gleicher Weise zur Verfügung. Knapp die Hälfte der Intensivbetten befindet sich in Privatkliniken, zu denen lediglich ein Viertel der Bevölkerung Zugang hat. Zudem gibt es große regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung. Auch deswegen trifft es die Amazonasregion und Manaus derzeit besonders hart. Aber auch in São Paulo, hotspot des Virus in Brasilien, sind bereits über 89 Prozent der Intensivbetten belegt.
Die Kurve der Infizierten steigt rasant. Mittlerweile gibt es offiziell über 100.000 Infizierte in Brasilien und mehr als 7.000 Todesfälle. Es werden nur wenige Tests durchgeführt, die tatsächliche Zahl der Infizierten dürfte weitaus höher liegen. Laut einer Untersuchung des Imperial Colleges hat Brasilien die höchste Ansteckungsrate unter weltweit 48 untersuchten Ländern.
Wirtschaft vor Gesundheit
Trotz dieses massiven Anstiegs halten viele sich nicht an die Quarantänemaßnahmen – in São Paulo tut es lediglich die Hälfte der Bevölkerung. Die Gesundheitsversorgung ist besonders prekär für die über 13 Millionen Bewohner der Armutsviertel. Gerade dort sind gibt es keine Möglichkeiten des social distancing. Auch die ökonomische Krise wird ohnehin benachteiligte Gruppen am härtesten treffen. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL geht von einem Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 5,2 Prozent aus. Einer Studie zufolge sind über 81 Prozent der Beschäftigten von Entlassungen und Lohnkürzungen bedroht. Die etwa 40 Millionen informell Beschäftigten erhalten zwar zunächst für drei Monate eine staatliche Unterstützung von knapp 100 Euro. Diese aber erreicht nicht alle Bedürftigen, da viele bisher nicht einmal registriert sind.
Bolsonaro präferierte stets die Wirtschaft gegenüber der Bekämpfung des Virus. Damit stellte er sich gegen die Gouverneure der Bundesstaaten, die Maßnahmen gegen das Virus ergriffen haben, dabei aber immer auch gegen Bolsonaro agieren mussten. Auch unter den Gouverneuren der 26 Bundesstaaten und dem Regierungsdistrikt haben sich ehemals Verbündete gegen den Präsidenten positioniert. Einer der schärfsten Kritiker ist inzwischen der Gouverneur von São Paulo, João Doria. Inzwischen wird er als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt.
Es geht ums politische Überleben
Doch Bolsonaros vehemente Forderungen nach einer Wiederaufnahme wirtschaftlicher Aktivitäten könnten ihm in Verbindung mit den Hilfsmaßnahmen für ärmere Bevölkerungsschichten Zuspruch bringen. Diese Position bietet ihm zudem die Möglichkeit, die kommende Wirtschaftskrise jenen zuzuschreiben, die sich für scharfe Quarantänemaßnahmen ausgesprochen haben. Zusammen mit Demokratieskeptikern und den ideologischen Anhängern, so schreibt André Singer, können dies Fragmente eines zukünftigen sozio-ideologischen Blocks sein, der Bolsonaro unterstützt.
Für Bolsonaro geht es ums politische Überleben, der Tod Tausender scheint ihm dabei egal. In einer perfiden Logik könnte ihm die Eskalation der Lage sogar nutzen. Zum einen, um ein mögliches Impeachment-Verfahren hinauszuzögern – trotz der Vorwürfe wäre es nur schwer vermittelbar, wenn sich die Politik in dieser Lage mit der Amtsenthebung des Präsidenten befasste statt mit der Bekämpfung von Covid-19. Es würde Bolsonaro ein Argument liefern, um weiter gegen „die alte Politik“ zu hetzen. Zum anderen sind bei einer Eskalation auch autoritäre Maßnahmen leichter zu vertreten, was Bolsonaros Verständnis von politischer Führung entgegenkäme.
Enormer Einfluss der Militärs
Wie weit Bolsonaro gehen kann, hängt auch vom Militär ab. Immer wieder gibt es Gerüchte, es sei de facto das Militär, das die Kontrolle über die Regierung innehabe. Das Militär sieht sich als Garant der Ordnung in Brasilien. Mit einem offenen Putsch ist derzeit aber nicht zu rechnen. Stattdessen ist eine wachsende Einflussnahme mit Hilfe demokratischer Mittel und innerhalb der Regierung zu beobachten. Nicht einmal zu Zeiten der Militärdiktatur waren so viele öffentliche Posten mit Angehörigen des Militärs besetzt.
Im Falle eines Impeachments würde Vizepräsident Hamilton Mourão die Regierung übernehmen, ebenfalls ein ehemaliger General. Der Einfluss der Militärs ist enorm und in der Corona-Krise noch einmal gestiegen. Und doch ist die Kontrolle des Militärs über Bolsonaro nicht absolut. Beim ersten Versuch Bolsonaros, Gesundheitsminister Mandetta abzusetzen, wurde er noch von Generälen daran gehindert. Wenig später aber hatte er Erfolg und auch bei der Absetzung des Polizeichefs setzte er sich durch. Gar über einen Rückzug der Militärs aus der Regierung wurde spekuliert. Ein solcher Rückzug ist ein effektives Drohszenario, wäre es doch das Ende von Bolsonaros Regierung.
Todesopfer höher als in China
Die Militärs in der Regierung stecken in einem Dilemma: Entweder sie machen sich zu Komplizen Bolsonaros, der das Land ins Chaos führt oder aber sie treten aus der Regierung aus und unterstützen die Absetzung des Präsidenten, womit sie aber ihre verfassungsmäßige Rolle brechen würden. Es lässt sich allerdings darüber streiten, ob sie mit dieser Rolle nicht ohnehin bereits beim Eintritt in die Regierung gebrochen haben. Beide genannten Optionen hätten wohl Einfluss auf die demokratische Struktur des Landes.
Die nächsten Wochen werden richtungsweisend. Die multiplen Krisen in Brasilien sind längst auch zu einer Frage der Widerstandsfähigkeit der Demokratie geworden. Der Ausgang ist offen, während die Richtung in der Corona-Krise erschreckend deutlich ist. Seit dem 29. April ist die offizielle Zahl der Todesopfer höher als in China, Tendenz stark ansteigend. Darauf angesprochen erwiderte Jair Messias Bolsonaro: „Na und? (...) Ich bin Messias, aber ich vollbringe keine Wunder.“
Dieser Text erschien im ipg-journal.de
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Südkorea. Zuvor leitete er das FES-Büro in Brasilien.