Corona in Lettland: Erfolgreiches und effizientes Krisenmanagement
Sollte sich die Vorhersage bewahrheiten, dass die Ausnahmesituation der Covid-19 Pandemie schon zuvor bestehende Trends und Entwicklungen ins Scheinwerferlicht des öffentlichen Bewusstseins zerrt, könnte sich Lettland als einer der interessanteren Fälle in der Europäischen Union herausstellen. Ziemlich genau drei Jahrzehnte nach der wiedererkämpften staatlichen Unabhängigkeit hat das kleine baltische Land mit seinem Krisenmanagement bewiesen, wie administrativ erfolgreich und effizient es zu handeln in der Lage ist, solange es einen tragfähigen politischen Konsens im Land gibt.
Am 13. März Notstand ausgerufen
Ähnlich wie seine baltischen Nachbarländer hat Lettland am 13. März konsequent reagiert und den Notstand ausgerufen, als sich abzeichnete, dass sich der Erreger räumlich nicht wird begrenzen lassen. Das Land hat seine Grenzen abgeriegelt und diverse Regelungen getroffen, die in den folgenden Wochen schrittweise verschärft und verlängert wurden. Auf harte Verbote wurde weitgehend verzichtetet, die meisten Geschäfte mussten nur an den Wochenenden schließen. Das öffentliche Leben kam aufgrund der Empfehlungen zur sozialen Distanzierung dennoch weitestgehend zum Erliegen.
In Lettland wurde zudem im Rahmen der Möglichkeiten frühzeitig umfangreich und strategisch geschickt entlang von möglichen Infektionsketten getestet und entsprechende Kapazitäten wurden sukzessive erhöht. Inzwischen sind etwas mehr als zwei Prozent der knapp zwei Millionen Letten getestet, womit das Land wie seine baltischen Nachbarn im oberen Drittel der Tests pro Einwohner*innen rangiert. Mit dieser Strategie und der Disziplin der Bevölkerung gelang es, die Ausbreitung nach heutigem Stand sehr erfolgreich zu kontrollieren. Etwas Glück war sicher auch im Spiel, immerhin kam es nicht wie in Estland oder Litauen zu lokalen Hotspots.
Wirtschaftseinbruch um mehr als zehn Prozent
Der Preis dafür war ähnlich wie in anderen europäischen Staaten das Schockeinfrieren des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Schätzungen der lettischen Zentralbank besagen, dass die lettische Wirtschaft 2020 um etwas mehr als zehn Prozent einbrechen wird. Damit wäre Lettland wie schon bei der Finanz- und Schuldenkrise vor einem Jahrzehnt erneut härter getroffen als seine Nachbarn. Es stellt sich die Frage nach dem Warum.
Erstmalig ist im Land eine breit verankerte Debatte über die Rolle des Staates als Garant sozialer Absicherung und Fürsorge entbrannt. Sie entzündet sich an der Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen Stabilisierungsmaßnahmen. Anfang April hatte Finanzminister Jānis Reirs einen Plan verkündet, der Maßnahmen bis zu einer Gesamthöhe von fast drei Milliarden Euro für das kleine Land umfassen sollte. So ging man in Berechnungen davon aus, dass in den ersten zwei Monaten etwa 130 Millionen Euro an direkter Hilfe an etwa 150 000 Beschäftigte ausbezahlt werden könnten.
Sollen die Lett*innen diszipliniert werden?
Die inzwischen veröffentlichten Zahlen über tatsächliche Hilfsleistungen lesen sich dagegen ernüchternd, entsprechend haben sie zu einem Sturm der Entrüstung geführt. Bis zum 21. April waren lediglich 4,8 Millionen Euro ausbezahlt und in diesem Zuge 17 605 Arbeitnehmer*innen und 3 308 Unternehmen unterstützt worden – bei einer Gesamtzahl von 52 000 Unternehmen und rund 465 000 Arbeitnehmer*innen im Land. Die durchschnittliche Unterstützungsquote liegt bislang demnach bei nur 259 Euro und für 87 Prozent der begünstigten Einzelpersonen unterhalb des nationalen Mindestlohns. 302 Personen erhalten sogar nur weniger als 20 Euro im Monat. Gleichzeitig wurden Anträge von 2 240 Unternehmen und 877 freiberuflich Tätigen und Selbstständigen wegen formaler Einwände komplett abgewiesen.
Nun rächt sich, dass der Anteil der Schattenwirtschaft mit etwas mehr als einem Fünftel der Wirtschaftsleistung hoch und die Kreditvergabe an Einzelpersonen und kleinere und mittlere Unternehmen seit 2009 de facto gestoppt ist. Das Flat-Tax System trägt wenig zu Steuerehrlichkeit bei. Daher steht nun der Vorwurf im Raum, das staatliche Unterstützungsprogramm sei nicht mit dem Gedanken erstellt worden, der Wirtschaft zu helfen, sondern die Lett*innen zu disziplinieren. Bedenkt man, dass nach der Finanzkrise allgemeine Kürzungen um ein Drittel klaglos hingenommen wurden und man im Land zu großen Teilen stolz auf die eigene Erfüllung der Kriterien der Austeritätspolitik war, ist dies eine bemerkenswerte Entwicklung.
Erschienen am 28. April im ipg-Journal.
leitet das Regionalbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung im Baltikum. Zuvor war er als Projektmitarbeiter im Büro für die Nordischen Länder der FES und als Junior Researcher im Projekt Nordeuropa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) tätig.