Corona-Krise: „Die EU hätte schneller sein müssen“
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Unterschiedliche Regelungen in verschiedenen Ländern, Exportbeschränkungen, Grenzkontrollen – ist die Corona-Krise zugleich eine Krise der EU?
Die EU hat nicht so schnell gehandelt, wie ich es mir gewünscht hätte. Die EU koordiniert zwar einige Maßnahmen, aber es hätte mehr und schneller sein müssen. Die europäische Solidarität hat oft gefehlt. Dabei ist europäische Zusammenarbeit effizienter als ein Flickenteppich nationaler Einzelmaßnahmen. Ich freue mich zum Beispiel, dass Deutschland erste Patientinnen und Patienten aus Frankreich und Italien aufgenommen hat. Jedes unserer Mitgliedsländer muss helfen und wir schaffen das nur als Union. Wer freie Kapazitäten hat, sollte Mitgliedsländern in Not aushelfen. Ein Ausfuhrstopp von medizinischem Material, wie es ihn teilweise gegeben hat, entspricht nicht den europäischen Regeln und hat gezeigt, dass die EU in entscheidenden Situationen weit davon entfernt ist, gemeinsam zu handeln.
Besonders schwach war dabei die Koordination durch die Europäische Kommission. In meinen Augen wurde die Entwicklung verschlafen und nicht früh genug eine europäische Koordination angestrebt. Bilder aus manchen Ländern, die zeigen, wie die EU-Flagge durch eine chinesische Flagge getauscht wird, sind schmerzlich. Denn sie verdeutlichen, dass Menschen sich im Stich gelassen fühlen. Diese Krise macht daher einmal mehr deutlich, dass wir mehr EU und nicht weniger brauchen.
Was kann die EU tun, um in den anderen 26 Mitgliedsstaaten Zustände wie in Italien zu verhindern?
Nicht nur in Italien, auch in anderen Ländern kommen die Gesundheitssysteme an ihre Kapazitätsgrenzen. Durch eine bessere europäische Koordination hätten wir die Ausbreitung verlangsamen können. So wurden beispielsweise Grenzen medienwirksam geschlossen, als das Virus schon längst verbreitet war. Infektionsherde hätten früher erkannt werden müssen und lokal begrenzt werden sollen. Dafür fehlten die geeigneten Instrumente auf EU-Ebene. Eine Lehre aus der Corona-Krise ist, dass auch im Gesundheitsbereich mehr Zusammenarbeit erforderlich ist.
Aber die EU war auch nicht untätig, im Gegenteil: Am vergangenen Donnerstag haben wir das erste Mal in der Geschichte per Fernabstimmung dringend notwendige Maßnahmen verabschiedet. Unter anderem haben wir 37 Milliarden Euro für die „Corona Response Investment Initiative" freigestellt, die den am stärksten betroffenen Ländern, Regionen und Bürgerinnen und Bürgern bereitgestellt werden sollen. Der EU-Solidaritätsfonds wurde erweitert, so dass die europäischen Mitgliedsländer im Jahr 2020 bis zu 800 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Das Anlegen eines Vorrats an Material, Medizinischen Geräten und Arzneimitteln für COVID-19 wurde im Rahmen der RescEU-Funktion des EU-Katastrophenschutzmechanismus vereinbart. Dieser Mechanismus wurde erst in der letzten Legislaturperiode geschaffen und soll die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten verbessern. Schließlich schafft die EU Schutzausrüstung wie Masken und Handschuhe, Beatmungsgeräte und Testkits an, die dann an Mitgliedsländer verteilt werden.
Wie beurteilen Sie die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in den einzelnen Mitgliedsstaaten?
Viele Länder wie Deutschland oder Frankreich haben schnell reagiert und direkt große Veranstaltungen abgesagt. Andere Länder, wie das Vereinte Königreich oder die Niederlande, haben erst die Strategie der Herdenimmunität verfolgt und die Strategie dann verändert. Den Königsweg gibt es derzeit nicht, alle Maßnahmen müssen ständig überprüft und angepasst werden. Ich halte persönlich nichts von medienwirksamen Maßnahmen, die die Ausbreitung nicht wirklich verhindern können. Mein Eindruck ist, dass insbesondere die Grenzschließungen einiger Mitgliedsstaaten mehr Handlungsfähigkeit signalisieren sollte, als sie wirklich hilfreich waren.
Maßnahmen zum Social Distancing helfen da weitaus mehr, bedeuten aber eine Einschränkung der Grundrechte und sind daher ständig neu zu bewerten.
Welche Regelungen sollten auf europäischer Ebene für eine bessere Zusammenarbeit in künftigen Krisenfällen getroffen werden?
Wir brauchen eine stärkere europäische Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich. Gemäß Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergänzt die Politik der Union lediglich die der Mitgliedstaaten. Das muss sich langfristig ändern. Bisher ist es so, dass sich die Mitgliedsstaaten reflexartig darauf berufen, dass sie in diesem Bereich nach dem Prinzip der Subsidiarität zuständig sein. Daher sind viele Initiativen zur europäischen Koordinierung im Sande verlaufen. Das bedauere ich sehr und hoffe, dass die Mitgliedsstaaten ihre Schlüsse ziehen und ihre Haltung überdenken.
Nicht nur, wenn es um die Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten geht, muss sichergestellt werden, dass es bezüglich Qualität und Sicherheit keine Unterschiede gibt. Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir die Abhängigkeit von Drittstaaten bei der Produktion von Arzneimittel verringern und wieder mehr in der EU herstellen. Angemessener Zugang zu Arzneimitteln bedeutet, dass Medikamente, selbst für seltene Krankheiten, nicht nur sicher, wirksam und hochwertig sind, sondern auch jederzeit verfügbar und erschwinglich sein sollten. Hier haben wir noch viel zu verbessern!
In der vergangenen Woche wurde der Todesfall eines IT-Mitarbeiters im Europäischen Parlament bekannt. Inwiefern hat sich die Arbeit des Europäischen Parlaments durch die Krise verändert?
Eigentlich hat sich alles geändert. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind seit zwei Wochen im Home Office. Und auch, wenn die erste Woche ein wenig schwierig war, läuft es jetzt rund. Wir führen Bürobesprechungen, Sitzungen der SPD-Europa oder Absprachen mit dem Parlament mittlerweile ausschließlich digital durch. Das gilt auch für Treffen mit Expertinnen und Experten der Kommission oder auch Gespräche mit Interessenvertreterinnen und -vertretern.
Auch Veranstaltungen werden mittlerweile digital durchgeführt. Das Zauberwort heißt hier: Webinar. Als Referent habe ich schon an verschiedenen dieser digitalen Seminare teilgenommen und muss sagen: Das klappt richtig gut und macht Spaß!
Zum ersten Mal in der Geschichte des Europaparlaments hatten wir zum Beispiel eine Fernabstimmung. Das Tagesgeschehen läuft also weiter, nur aus der Ferne. Aber das ist nicht völlig störungsfrei. Insbesondere die Ausschussarbeit läuft noch nicht digital, weil einfach die Infrastruktur fehlt. Wenn uns die Corona-Krise eins gezeigt hat, dann dass wir bei der Digitalisierung hinterherhängen und als Parlament einfach besser aufgestellt sein müssen.
Im Zusammenhang mit Corona werden zunehmend Fake News verbreitet. Was tun Sie, um dem entgegenzutreten?
Ich versuche via Social Media aufzuklären. Ich veröffentliche auf YouTube regelmäßig „Corona Updates“, um aktuelle Entwicklungen politisch einzuordnen. Irreführende Videos versuche ich richtig zu stellen. Es gibt leider Menschen, die immer noch nicht verstanden haben, dass wir in einer Krise stecken.
Weiterhin versuche ich Informationsquellen wie beispielsweise die Seiten der WHO, des Bundesministeriums für Gesundheit, des Robert-Koch-Instituts oder des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten zu verbreiten. Hier findet man ständig aktualisierte, hochwertige Informationen. Ich empfehle vertrauenswürdige Quellen wie den NDR-Podcast mit dem Virologen Christian Drosten.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo