Corona-Krise in der Türkei: Homosexuelle als Sündenbock
„Der Islam verdammt Homosexualität. Ihr Sinn ist es, Krankheiten zu verbreiten und Generationen verfaulen zu lassen“ wetterte der oberste türkische Islamgelehrte Ali Erbas zum Auftakt des Fastenmonats Ramadan am 24. April. So sei Homosexualität verantwortlich für die Verbreitung von HIV. Dann fügte er hinzu: „Lasst uns zusammen aktiv werden, um die Menschen vor solchen Übeln zu schützen.“
Homosexualität und das Corona-Virus
Türkische Oppositionspolitiker, Aktivisten und Menschenrechtler zeigten sich entsetzt über diese Worte, die Anwaltskammer von Ankara reichte Beschwerde gegen den DIYANET-Chef ein. Sie warf ihm vor, zu Hass und Ausgrenzung anzustiften. Emma Sinclair-Webb, Türkei-Beauftragte von Human Rights Watch, sieht das ähnlich: “LGBT-Menschen sind ohnehin eine stigmatisierte Gruppen in der Türkei, und wenn ein hochrangiger Staatsvertreter eine Rede mit solchen Gefühlen führt, kann das Hassverbrechen befeuern.“ Besonders gefährlich findet sie, wie Ali Erbas indirekt suggeriere, Homosexualität könne auch den Corona-Virus verbreiten.
Den 34-jährigen Onur (Name von der Redaktion geändert) beschäftigen diese Worte seit Tagen: „Diese ausgrenzenden, unpassenden Worte haben mir unglaublich weh getan“, sagt der Istanbuler. Er ist homosexuell, hält das aber geheim. Die Predigt entzog ihm den Boden unter den Füßen: „Sie hat beinahe dafür gesorgt, dass ich mich und die Religion an die ich glaube in Frage stelle.“
LGBT-Menschen in der Türkei ein Tabu
Homosexualität ist in der Türkei noch immer ein Tabu. Zwar sind LGBT-Menschen von der Verfassung geschützt, war Homosexualität noch nie ein Strafbestand und ist auch eine Geschlechtsumwandlung legal. In Großstädten wie Istanbul gibt es riesige, lebendige LGBT-Communities, transsexuelle SängerInnen wie Bülent Ersoy sind Megastars. Doch wer als homo-, bi- oder homosexuelle Türk*in ein bürgerliches Leben führen will, muss sich auf Ausgrenzung und Vorurteile gefasst machen.
Sexualaufklärung gibt es in den Schulen kaum, von Aufklärung über sexuelle Minderheiten ganz zu schweigen, erzählt Ozan: „Als ich als Jugendlicher merkte, dass ich anders bin, wusste ich nicht einmal, dass es so etwas wie Homosexualität gibt.“ Ein schmerzhafter Prozess, in der erst ein verständnisvoller Lehrer und dann das Internet ihn zu der Erkenntnis brachten, dass er weder krank noch ein Sünder ist. Von seiner Homosexualität wissen nur die wenigsten in seinem Umfeld; die Eltern halten seinen Partner für einen Mitbewohner. Wenn Arbeitskollegen seit der Predigt des DIYANET-Chefs homophobe Witze machen, hält er den Mund.
Erdogan nutzt Debatte aus
Die Predigt beherrscht seit Tagen die türkischen Medien: die vorwiegend regierungstreuen Zeitungen und TV-Sender werden nicht müde zu wiederholen, Homosexuelle seien pervers und eine Gefahr für die traditionelle Familie. In den sozialen Medien formierten sich Unterstützer des DIYANET-Chefs unter dem Hashtag „Ali Erbas ist nicht allein“. Auf Instagram behaupteten zwei Wissenschaftler aus Ankara gar, wenn die Türkei ihren EU-Beitrittsprozess zur EU abbreche, sei endlich der Weg frei, um Homosexualität als Terror anzuerkennen und zu verfolgen.
Auch Präsident Erdogan nahm Erbas in Schutz: „Er hat nur seine Pflicht gemäß den Regeln seines Glaubens und seines Amtes erfüllt. Was er sagte, war vollkommen richtig.“ Für Nicht-Sunniten seien die Worte nicht bindend, sondern nur eine Meinung. Allerdings fügte Erdogan hinzu, die Kritik an der Anwaltskammer sei „ein Angriff auf den Islam und den türkischen Staat“.
Seitdem hetzt Erdogan immer wieder gegen die Anwaltskammer. In dieser Woche erklärte er, er wolle die Wahlmechanismen von Berufsverbänden schnellstmöglich ändern lassen. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen die Anwaltskammer auf. Ihre Begründung: sie habe die religiösen Werte eines Teils der Bevölkerung beleidigt.
Sündenbock für die Corona-Krise
„Mit dieser Debatte wurden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, meint Anwältin und Rechtsdozentin Öykü Didem Aydin. Sie leitet das Büro für LGBTİQ+-Rechte der Anwaltskammer Ankara, will aber als Privatperson sprechen. „Zum einen konnte die immer stärker werdende LGBT-Bewegung unterdrückt, die Tagesordnung geändert und ein Sündenbock für die Corona-Krise gefunden werden“, so die Anwältin. „Zudem bietet sie der Regierung eine Gelegenheit um gegen die Anwaltskammer vorgehen, die ihr wegen ihrer kritischen Haltung schon lange ein Dorn im Auge war.“
Aydin erlebte in den letzten Tagen nicht nur viele Anfeindungen, sondern auch viel Unterstützung: zahlreiche Organisationen und Politiker drückten ihre Solidarität aus, in den sozialen Medien posteten zehntausende von Türken unter dem Hashtag „LGBT-Rechte sind Menschenrechte“. Die Türkei ist bunter, vielfältiger und unbeugsamer als es oft scheint – auch wenn der Präsident und seine Gefolgschaft das mit allen Mitteln bekämpfen.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.