Nach den traumatisierenden Erfahrungen der Covid-Pandemie, die im Frühjahr über 36 000 Menschen das Leben gekostet hat, war Italien dieses Jahr besonders urlaubs- und erholungsreif. Die harten und drastischen Maßnahmen der Regierung, die de facto eine monatelange Ausgangssperre bedeuteten und von der Bevölkerung in ganz Italien ohne Murren auf sich genommen wurden, weckten die Sehnsucht nach Normalität und nach Sommer, Urlaub und Strand.

Nun ziehen Ende August wieder dunkle Gewitterwolken auf. Konnte man vor der Sommerpause noch behaupten, die Pandemie mit circa 200 landesweit Neuerkrankten pro Tag im Griff zu haben, sind zwischenzeitlich die Infektionszahlen auf deutlich über 1000 gestiegen. Während im Frühjahr insbesondere Ältere vom Virus befallen wurden, sind nun die Hälfte der Erkrankten unter 30 Jahren und weisen einen nicht symptomatischen Verlauf auf. Überfüllte Strände sowie brechend volle Clubs und Diskotheken, die allen Distanzgeboten Hohn sprachen, waren ein idealer Nährboden für die erneute Ausbreitung des Virus. Mittlerweile sind die Clubs geschlossen und eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum verfügt. Zwar sind im Vergleich zum Frühjahr die Krankenhäuser (noch?) leer, aber die Angst vor einer zweiten Welle im Herbst wächst.

Ferienende und Regionalwahlen im September

Sorge bereitet insbesondere die am 14. September anstehende Schulöffnung. Die Rückkehr zum Präsenzbetrieb wird von allen Parteien als absolute politische Priorität angesehen. Aber welche Hygieneregeln und Sicherheitsprotokolle gelten und wie diese umgesetzt werden sollen, dazu gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen zwischen Rom und den einzelnen Regionen. So gut es in der Summe dem italienischen Schulsystem gelungen war, sehr schnell und recht erfolgreich auf Fernunterricht umzustellen, so schwer fällt momentan die Rückkehr in die Schulen. Die Opposition trommelt schon gewaltig und wirft der Regierung systematisches Versagen und Unfähigkeit vor und fordert den Rücktritt der Bildungsministerin.

Ob und wie das Projekt Schulöffnung gelingt, dürfte auch maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang der Regionalwahlen im September haben. Am 20./21. September finden in sieben Regionen (Ligurien, Venedig, Toskana, Marken, Kampanien, Apulien und Aosta-Tal) Wahlen statt, bei denen auch die Ministerpräsidenten gewählt werden. Während die rechten und rechtspopulistischen Parteien Lega, Forza Italia (FI) und Fratelli d’Italia (FdI) sehr schnell Wahlbündnisse schlossen und gemeinsame Kandidaten nominierten, gelangt dies den Regierungsparteien Partito Democratico (PD), Fünfsternebewegung (Movimento5Stelle, M5S) und Italia Viva (IV) nicht. Sich abzeichnende Wahlbündnisse auf der Provinzebene wurden vom Interimsvorsitzenden des M5S gestoppt.

Schwache Regierung bereitet rechter Opposition den Weg

So entsteht die absurde Situation, dass die Regierungsparteien sich wechselseitig schwächen, indem sie eigene Kandidaten gegeneinander ins Feld schicken. Damit machen sie den Weg frei für die vereinten rechten Oppositionsparteien. Aktuell werden vier der sieben Regionen noch von PD regiert, aber nur in Kampanien ist einigermaßen sicher mit einer Wiederwahl zu rechnen. Wenn nun aber selbst die rote Toskana an die Rechten fallen sollte, wäre dies ein Fanal, das auch die Stabilität der Regierung gefährden kann.

In der Partito Democratico wächst zusehends die Verärgerung über die Unzuverlässigkeit der Fünfsternebewegung, die in einer pubertierenden Identitätskrise steckt und nicht recht weiß, was sie eigentlich sein will: Bewegung oder Partei, will sie regieren oder opponieren, ist sie links, rechts, grün oder gar nichts? So ist das M5S alles auf einmal, nur eines nicht: ein verlässlicher Partner für die PD. Hin- und hergerissen ist die PD zudem in der Frage, wie sie sich bei dem ebenfalls am 20./21. September anstehenden Verfassungsreferendum zur Verkleinerung des Parlaments verhalten soll.

Uneinigkeit vor Verfassungsreferendum

Die Forderung, den Senat von 315 auf 200 und die Abgeordnetenkammer von 630 auf 400 Sitze zu reduzieren, ist ein altes Wahlkampfschlachtross aus dem antiparlamentarischen Fundus der M5S, dem sich die rechtspopulistischen Parteien angeschlossen hatten. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen zwischen den sich bis dato in herzlicher Abneigung gegenüberstehenden Parteien PD und M5S vergangenen Sommer war die Unterstützung dieser Reform gleichsam die Morgengabe von PD. Jetzt, wenige Wochen vor dem verbindlichen Referendum, mehren sich die Zweifel, ob ein Senat mit 200 Personen überhaupt arbeitsfähig und neben einer Parlamentsreform nicht auch eine Wahlrechtsreform dringend notwendig wäre.

Interessanterweise steht das deutsche Verhältnismehrheitswahlrecht mit Sperrklausel als Option (als sogenanntes „Germanicum“) gerade hoch im Kurs, wobei die negativen Seiten ausgeblendet werden. Offiziell stehen die Vorsitzenden von Lega, Matteo Salvini, und Fratelli d’Italia, Giorgia Melloni, hinter der Reduzierung der Parlamentssitze, aber eigentlich wünschen sie sich ein Scheitern des Referendums, weil sie sich davon eine weitere Schwächung der Regierung versprechen. Silvio Berlusconi, Führer von Forza Italia und Altmeister der Populisten, hält sich noch offen, wie er abstimmen wird – er wolle sich erst einmal die Umfragen anschauen und dann entscheiden.

Bislang hat die Regierung aus Partito Democratico und Fünfsternebewegung unter der Führung von Giuseppe Conte die unmittelbare Krise gut gemeistert. Die Auswirkungen der Pandemie auf Wirtschaft und Finanzen des Landes sind allerdings immens. Über 100 Milliarden Euro an neuen Schulden wurden zur Abfederung der Pandemiefolgen aufgenommen (in Deutschland waren es allerdings deutlich mehr), hinzu kommen Steuerausfälle von über 24 Milliarden Euro. Die Staatsverschuldung stieg von 132 Prozent auf über 160 Prozent. Für das Jahr 2020 wird ein Einbruch des BIP von über 11 Prozent erwartet (in Deutschland von circa 6 Prozent).

Pandemie-Folgen: Angst vor Pleitewelle

Die sozialen Folgen konnten bislang einigermaßen gut mit Sonder- und Unterstützungsleistungen abgefedert werden. Es droht jedoch im Herbst eine tiefe soziale Krise, wenn ad-hoc-Maßnahmen zur Stützung des Arbeitsmarkts und der Einkommen auslaufen und mit einer Pleitewelle zu rechnen ist. Zwar hat die Regierung (gegen den scharfen Protest der Industrie) das Kündigungsverbot bis Ende Oktober verlängert, aber schon bis jetzt sind weit über 400 000 Zeitverträge ausgelaufen. Auch wenn es soziale Proteste in Italien bislang nur sehr vereinzelt und auch keine mit Deutschland vergleichbaren Anti-Covid-Protestbewegungen gegeben hat, schließt die Regierung nicht aus, dass es womöglich zu einem „heißen Herbst“ mit sozialen Unruhen kommen wird.

Größte Herausforderung der Regierung ist es daher, die sich abzeichnende wirtschaftliche und damit verbundene soziale Krise abzuwenden oder zumindest abzufedern. Die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels im Juli haben der Regierung den Rücken gestärkt und Handlungsspielräume eröffnet, die es nun aber zu nutzen gilt. Bis September muss ein schlüssiges Gesamtkonzept entwickelt werden, das alte Grundübel (wie lähmende Bürokratie, marode Infrastruktur, überlastetes Justizsystem, Nord-Süd-Spaltung des Landes) angeht und mit neuen Impulsen insbesondere im Bereich der Green Economy und Digitalisierung das Land auf Zukunftskurs bringt.

EU-Milliarden entlasten italienischen Haushalt

Durch den Recovery Fund stehen Italien in den nächsten Jahren zusätzliche 209 Milliarden Euro zur Verfügung (davon 81 Milliarden als Zuschüsse), die nicht durch eine Schuldenaufnahme an den Märkten finanziert werden müssen. Der europäische Fonds SURE entlastet den italienischen Haushalt um weitere 27 Milliarden Euro. Ob Italien auch Mittel aus dem ESM anfordern wird, ist immer noch politisch umstritten, obgleich es das Geld für sein am Boden liegendes Gesundheitssystem dringend benötigt und mit den zinsfreien MES Mitteln über fünf Milliarden Euro Zinsen sparen könnte. Während die PD klar dafür ist, sehen die Populisten von rechts und die Fünfsternebewegung darin eine Falle Europas, da nach der Beantragung alsbald die Troika einreiten und Italien unterwerfen würde. Dass solche abstrusen Schauermärchen verfangen, ist ein klares Zeichen, dass sich das einst so proeuropäische Italien in weiten Teilen seiner Bevölkerung von Europa entfernt bzw. sich das Gefühl festgesetzt hat, von Europa im Stich gelassen worden zu sein.

Die politische Stimmungslage im Land ist abwartend. Die hohen Zustimmungswerte zur Regierung Conte im Frühjahr haben sich wieder abgeflacht, und die Regierungsparteien stagnieren in der Umfragegunst, PD um die 20 Prozent, die Fünfsternebewegung bei 15 Prozent. Das rechte Lage hält sich in den Umfragen bei konstant über 50 Prozent, wobei es interessante Gewichtsverschiebungen gibt: Salvinis Lega ist auf 26 Prozent abgestürzt. Die Stimmen, die ihm verlorengingen, kamen Giorgia Melonis neofaschistischen Fratelli d’Italia zugute, die in den Umfragen mittlerweile gleichstark wie die M5S sind.

Pandemie stoppt Höhenflug von Salvini

Der Zickzackkurs von Salvini mit Blick auf die Bekämpfung des Virus sowie das Fehlmanagement des Lega-Gouverneurs in der am stärksten von der Pandemie betroffenen Region Lombardei haben dazu beigetragen, den Höhenflug der Lega zu beenden. Salvini stemmt sich gegen den demoskopischen Niedergang und versucht, durch die Verkettung von Migration und Covid politisches Kapital zu schlagen. Programmatisch sind die Unterschiede zwischen Lega und Fratelli d’Italia überschaubar. Beide setzen auf das gleiche politische Angebot eines rüden, stramm nationalistischen Rechtspopulismus, der gegen Migranten hetzt und offen mit dem Austritt aus EU und Euro kokettiert.

Italien muss daher politisch und ökonomisch als Achillesferse Europas gelten. Entscheidend für die Zukunft der Regierung Conte und der aktuellen Koalition ist die Frage, ob sie die sich am Horizont abzeichnenden Stürme übersteht und es ihr gelingt, auch mit Hilfe der Finanzmittel des Recovery Funds eine überzeugende Zukunftsvision für das Land zu entwickeln.