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Corona in Frankreich: „Wir befinden uns im Krieg“

Frankreich befinde sich im Krieg, sagte Präsident Emmanuel Macron. Seitdem ist das öffentliche Leben im ganzen Land komplett zum Erliegen gekommen. Diejenigen, die noch arbeiten müssen, sind in der Mehrzahl Frauen.
von Kay Walter · 23. März 2020
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Anfang voriger Woche sprach Emmanuel Macron – zum zweiten Mal binnen vier Tagen – via TV zur Nation und erklärte: „Wir sind im Krieg.“ Noch weitere fünf Mal sollte er diesen Satz wiederholen. „Wir sind im Krieg.“ Warum diese martialische Rhetorik? Geht es nicht auch eine Nummer kleiner? Zumindest als Deutscher ist man doch schwer versucht, das zu fragen.

Frankreich hat sich komplett gewandelt

Paris und das ganze Land haben sich seit dieser Ansprache komplett gewandelt. Kaum zu fassen, wie radikal sich das Leben seither verändert hat. Noch vor gut einer Woche haben die Menschen das milde Frühlingswetter massenhaft für Spaziergänge und Ausflüge aller Art genutzt, sind am 15. März landesweit zur Kommunalwahl gegangen. Überall fröhliche Menschen, dicht an dicht vor den Cafés und Bistros, unterwegs auf E-Rollern, Fahrrädern oder im Cabrio. Keine Spur von Corona-Krise oder Einschränkungen. Atemmasken? Fehlanzeige, außer bei den letzten paar verbliebenen Tourist*innen aus Japan und China.

Heute vor einer Woche war es dann so, als wäre ein Schalter umgelegt worden: die Bistros geschlossen, kein „kleiner Schwarzer“ – wie die Franzosen den Espresso nennen – mit Tratsch am Tresen oder in der Sonne davor. Stattdessen lange Schlangen vor den Apotheken, Supermärkten und Tabakläden, sogar mit dem Versuch, Abstand zu halten.

Ein Land unter Hausarrest

Kein Gemeckere (absolute Pflicht an normalen Tagen in Paris), sondern eine Disziplin, die selbst Brit*innen bestaunen würden. Und bei weit mehr als der Hälfte der Menschen ist das Gesicht hinter Masken verborgen. Von 12 Uhr mittags an wird das gesamte Land unter Hausarrest gestellt. Nur noch kurze Wege zum Einkauf sind gestattet, ein wenig Sport oder den Hund nach draußen lassen. Zur Arbeit darf, wer muss und keine Möglichkeit für Homeoffice hat. Aber auch das nur mit schriftlicher Erklärung. Bis dato unvorstellbar in Frankreich, wird das auch tatsächlich kontrolliert. Wenige hundert Meter vom Haus entfernt die erste Polizeikontrolle: „Wohin wollen Sie? Warum? Wo ist Ihr permis, ihre Erlaubnis?“ Nicht die einzige Kontrolle. Und auch das akzeptieren die Französ*innen, ohne zu murren.

Seitdem liegt eine atemberaubende Stille über der französischen Hauptstadt, die sonst jede Form von Geräusch zu lieben scheint, Hauptsache laut und hektisch. Kein Mensch auf den Champs-Élysées, außer mehreren Kamerateams, die das unvorstellbare Bild festhalten wollen und dabei von Polizeigruppen kontrolliert werden. Ansonsten: hier und da vereinzelte Jogger*innen, ein alter Mann mit Hund, kaum Privatwagen, dafür Kleintransporter im Lieferservice. Die Verkäuferinnen in der Boulangerie stehen sich die Beine in den Bauch, Sonnenschein, saubere Luft und Stille. Unfassbar, nie erlebt, nicht einmal am 15. August, am katholischen Feiertag mitten in den Sommerferien.

Kommunalwahlen verschoben

Der politische Streit, ein Lebenselixier aller Franzosen, ist ausgesetzt. Keine Groß-Demonstrationen von Gelbwesten, keine Streiks gegen die Rentenpläne der Regierung; alle Gesetzesvorhaben der Regierung ebenfalls ausgesetzt, verschoben auf die Zeit nach Covid-19. „Wir befinden uns im Krieg“, hat der Präsident gesagt. Und: „Alle Maßnahmen der Regierung und des Parlaments müssen künftig auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet sein. Tag und Nacht, nichts darf uns davon ablenken.

Dazu gehört auch: Die zweite und entscheidende Runde der für das gesamte Land so wichtigen Kommunalwahlen ist auf unbestimmte Zeit verschoben, gehofft wird auf den 21. Juni. Und praktisch alle Politiker*innen – von weit Links bis weit Rechts – sprechen sich dafür aus, die Nation müsse nun zusammenrücken. Nicht einmal das eigene Abschneiden wird lauthals beklagt oder bejubelt. Kein Triumph zum Beispiel bei Anne Hidalgo, amtierende sozialistische Bürgermeisterin von Paris und bei der ersten Wahlrunde am 15. März mit mehr als 30 Prozent der Stimmen überraschend klar in Führung gegangen; nur ein Satz: „Wir müssen jetzt zusammenhalten, Paris hat schon viele schwierige Krisen gemeistert.“ Und ausgerechnet Jean-Luc Mélenchon, Chef der linkspopulistischen Partei La France Insoumise („Das rebellische Frankreich“), dem ansonsten jedes Mittel des Protests recht ist, ausgerechnet Mélenchon also, ruft zu Disziplin und Ordnung auf.

Vor allem Frauen arbeiten

Im Privaten wie in der Politik muss natürlich weiterhin gearbeitet werden. Und dabei zeigt sich die gewaltige Ungleichverteilung.  Denn draußen arbeiten müssen vor allem Frauen, das gilt in dieser Krise in Frankreich wie überall in der Welt. Die Beschäftigten im Supermarkt, zu mehr als 70 Prozent Frauen; die Angestellten im Gesundheits- und Pflegedienst, zu 75 Prozent Frauen. So viel zu Systemrelevanz und dazu, wer ein Land „am Laufen hält“.

Wer es sich leisten kann – Ausgangssperre hin und Reiseverbot her – hat die großen Städte samt Familie verlassen und ist ins Haus auf dem Land gefahren, wenn es geht in den Süden, aber auch an die Atlantikküste. Ein Zweitwohnsitz macht das möglich. Die Einheimischen der französischen Atlantikinseln sind bereits sauer, weil die Pariser*innen eingefallen seien und nicht nur Supermärkte und Straßen blockierten und das schöne Frühlingswetter zum Strandurlaub nutzten, sondern auch das Corona-Virus auf die bislang kaum befallenen Inseln einzuschleppen drohten. In den Städten bleiben die weniger Wohlhabenden und die Alleinerziehenden; ohne Erlaubnis, einen der wenigen Spielplätze oder eine Grünflächen zu betreten.

Während der Corona-Krise ist die Politik bestrebt, den Zusammenhalt zu stärken und gemeinsame Lösungen zu suchen. Aber wenn die Krise dann beendet sein wird, darf der notwendige Wiederaufbau nicht nur im Interesse der Wirtschaft geschehen, sondern auch in dem der Beschäftigten. Dann wird über die vorhandene Ungleichheit zu reden sein, die während der Coronakrise manche Gutverdiener*innen in eine Art Urlaubslaune versetzt, während Ärzt*innen und Krankenschwestern, Verkäuferinnen und Kassiererinnen kaum noch aus den Augen schauen können.

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