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Corona in der Türkei: Erdogan unterdrückt jede Kritik

In der Türkei gibt es bisher offiziell 5698 Corona-Infizierte und 92 Todesfälle, doch viele Türken zweifeln an den Zahlen. Ankara lässt kritische Stimmen harsch unterdrücken und erneut oppositionelle Bürgermeister absetzen. Langfristig kann das die Katastrophe nur vergrößern.
von Kristina Karasu · 28. März 2020
Desinfektion des großen Basars in Instanbul: Der Corona-Kurs der türkischen Regierung könnte das Land teuer zu stehen kommen.
Desinfektion des großen Basars in Instanbul: Der Corona-Kurs der türkischen Regierung könnte das Land teuer zu stehen kommen.

Das Video einer Teambesprechung eines türkischen Krankenhauses verbreitete sich vergangene Woche in Windeseile in den sozialen Medien: Eine Ärztin erklärt dort ihrem Stationsteam, dass die offiziellen Corona-Fallzahlen bei weitem nicht der Realität entsprechen, sondern um ein Vielfaches höher liegen. Die Lage sei allmählich außer Kontrolle. Was die meisten Türken ahnten, hörten sie nun aus Mitte der Krise.

Einen Tag später erklärte das türkische Innenministerium auf Twitter, man habe 64 Menschen wegen „haltlosen und provokativen Coronavirus-Posts in den sozialen Medien“ festgenommen, gegen insgesamt 242 Verdächtige laufen Untersuchungen. Auch vier Journalist*innen wurden bereits festgenommen, weil sie kritisch über die Corona-Krise recherchiert und berichtet hatten. Die Botschaft der Festnahmen ist klar: Auch während der Pandemie will Ankara eine kritische Öffentlichkeit mit allen Mitteln verhindern.

Die türkische Regierung nutzt Corona für ihre Zwecke

Gleichzeitig ging die Regierung im Schatten der Corona-Krise in dieser Woche erneut gegen die Opposition vor. Im Osten und Südosten des Landes wurden acht Bezirksbürgermeister der kurdennahen HDP abgesetzt und viele von ihnen festgenommen, an ihre Stelle traten Zwangsverwalter. Schon seit letztem Frühjahr ließ man dutzende HDP-Bürgermeister*innen wegen angeblicher Terror-Unterstützung absetzen und hunderte Parteimitglieder verhaften. Der Co-Vorsitzende der HDP Mithat Sancar wirft der Regierung vor, in dieser Krise nur auf autoritäre Mittel und Verschleierung zu setzen: „Die Regierung versucht diese Epidemie als Gelegenheit auszunutzen und das ist politisch sowie moralisch inakzeptabel. Sie handelt nicht für ihr Volk, sondern nur um ihre eigene Macht zu erhalten.“

In den größtenteils regierungstreuen Massenmedien klingt das ganz anders. Dort wird die Regierung fortwährend für ihr Krisenmanagement gelobt. Sie ließ schon vor zwei Wochen Schulen, Universitäten und Cafés schließen, seit einer Woche gilt eine Ausgangssperre für Menschen ab 65 und Vorerkrankte, ab Freitag darf man nur mit Genehmigung des Gouverneurs durchs Land reisen. „Die Türkei ist bestens auf diese Epidemie vorbereitet“, beruhigte Staatspräsident Erdogan seine Landsleute am Freitagabend. Er spricht von 5698 Corona-Erkrankten und 92 Toten aber Herkunftsort oder Alter dieser Menschen verschweigt er. Transparenz sieht anders aus.

Das Gesundheitssystem könnte bald zusammenbrechen

„Die meisten Türken glauben diesen Zahlen und den Massenmedien nicht mehr, deswegen verfolgen sie unentwegt die soziale Medien“, erklärt Faruk Eren, Vorsitzender der Journalisten-Gewerkschaft DISK. „Das sorgt natürlich auch dafür, dass sich viele Falschmeldungen schnell verbreiten.“ Professionelle Journalistenkollegen stünden unter großem Druck: so wurde Tele 1, einer der letzten kritischen Fernsehsender, in dieser Woche von der Rundfunkbehörde mit riesigen Geldstrafen belegt. Ein Moderator hatte lediglich kritisiert, dass die Lehrerin des neuen Fernsehunterrichtes für die Zeit der Corona-Krise ein Kopftuch trägt.

Dabei wären freie Medien und eine starke Opposition für die Türkei derzeit überlebenswichtig. Zu recherchieren und hinterfragen gibt es vieles: Warum wurden tausende von türkischen Pilger, die vor einigen Wochen aus Mekka zurückkehrten, weder gestestet noch unter Quarantäne gestellt? Das hatte wohl maßgeblich zur Verbreitung des Virus in der Türkei beigetragen. Wie sieht es um die tatsächliche Versorgung mit Schutzkleidung in Krankenhäusern und hausärztlichen Zentren aus? Alles bestens, versichern Regierungsvertreter und die ihnen treuen Medien. Doch im türkischen Dienst der Deutschen Welle klagen türkische Ärzte anonym, dass es viel zu wenig Schutzkleidung gebe. Die Stationen seien voller Kranke mit eindeutigen Symptomen, die man aber nur zum Bruchteil teste. Das Gesundheitssystem könne schon Ende nächster Woche kollabieren.

Soziale Hilfen gibt es nur sehr begrenzt

Ebenso droht ein massiver Wirtschaftseinbruch – dabei steckt die türkische Wirtschaft ohnehin schon in einer großen Krise. Arbeitslosigkeit und Inflation waren schon vor Corona hoch, nun wissen viele Menschen kaum noch, wie sie den nächsten Monat überleben werden. Wohl auch deswegen schreckt Ankara bisher davor zurück, eine allgemeine Ausgangssperre auszurufen, auch wenn Opposition und Mediziner dringend dazu raten. Präsident Erdogan appelliert dagegen an die Bevölkerung, freiwillig zuhause zu bleiben. Mit seiner Regierung beschloss er ein 14-Milliarden-Rettungspaket, doch das begünstigt vorrangig große Firmen, soziale Hilfen gibt es nur sehr begrenzt.

Am Donnerstag ließ die Regierung die erste Etappe des umstrittenen Mega-Projektes „Kanal Istanbul“ ausschreiben. Zur Unzeit, findet der Vorsitzender der türkischen Ingenieurs- und Architektenkammer Emin Koramaz. Ankara denke nur an neue Geldquellen für ihnen nahe stehende Unternehmer und Stiftungen, während ihre Bevölkerung ums Überleben kämpfe, schreibt Koramaz in der linken Tageszeitung „Birgün“: „Die Kluft zwischen der AKP und der Realität der Menschen war noch nie so tief.“ Kurzfristig mag die AKP mit ihrem autoritären Kurs die Ruhe im Land bewahren können. Doch langfristig dürfte er die Türkei teuer zu stehen kommen.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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