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Corona: Der schwedische Sonderweg beim Virus

Lockdown in Dänemark, Finnland und Norwegen – nur Schweden macht nicht mit. Der Umgang mit der Corona-Krise ist ein Beispiel für das gesellschaftliche Selbstverständnis jedes einzelnen Schweden gegenüber der Gemeinschaft. Unklar ist, ob es im Kampf gegen das Virus reicht.
von Philipp Fink · 30. März 2020
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In Schweden fahren sie noch Ski während Finnlands Hauptstadt Helsinki komplett abgeriegelt ist. So ähnlich uns Deutschen die nordischen Länder oft erscheinen, so unterschiedlich sind ihre Strategien im Kampf gegen das Corona-Virus. Dänemark etwa hat das öffentliche Leben nahezu komplett heruntergefahren, Norwegen handhabt das ähnlich und verbietet seinen Landsleuten zusätzlich noch über die Osterfeiertage auf ihre Hütten zu fahren.

Schweden geht lockeren Weg

Einzig Schweden geht einen sehr viel lockeren Weg. Obwohl es bereits mehr als 100 Tote (Stand Sonntag 29.3.2020) im Land gibt, die an Covid-19 gestorben sind, dürfen die Schweden ihrem Alltag mehr oder weniger normal nachgehen. Die Grundschulen bis Klasse neun und die Kindergärten sind geöffnet, Restaurants und Bars auch, die jetzt allerdings am Tisch bedienen müssen. Diejenigen, die im Homeoffice arbeiten können, machen das auch. Universitäten und die Oberstufen der Schulen haben auf Online-Unterricht umgestellt und Zusammenkünfte von mehr als 50 Personen sind nicht mehr gestattet. Ansonsten wird die Abstandsregel empfohlen, Ältere sollen möglichst zu Hause bleiben, ebenso alle, die sich krank fühlen. Die Menschen sollen auf Reisen ins Ausland und im Inland verzichten.

Die Strategie dahinter stammt vom Staatsepidemiologen Anders Tegnell, der die Regierung berät. Er argumentiert, dass die Fallzahlen ungefähr gleichbleiben und die Zahl der Intensivpatienten sogar nahezu zurückgehe. Die Maßnahmen im Land zeigten also Effekte im Vergleich zu den Ländern, die es ganz schlimm erwischt habe. Die Sterberate gleicht eher denen in Deutschland als den Werten in Italien und Spanien.

Wenig Tests – verhältnismäßig wenig Infektionsfälle

Allerdings wird in Schweden auch vergleichsweise wenig auf den Virus getestet. Man beschränkt sich auf Risikogruppen und Schwererkrankte, weil es zu wenig Testkits gibt. Über eine sehr viel höhere Dunkelziffer als die bis zum Sonntag bestätigten 3.700 Infektionsfälle wird deswegen spekuliert, ebenso darüber, dass Schweden heimlich eine Art Herdenimmunität erlangen will, also das Virus frei durch das Land reisen lassen wolle, um die Bevölkerung möglichst schnell zu immunisieren.

Offiziell ist die laxe schwedische Strategie aber das Ergebnis einer Analyse der bisherigen Entwicklung der Pandemie. Infiziert wurden in Schweden hauptsächlich Personen, die nicht in den Risikogruppen zu finden sind. Zudem haben sich die meisten Erkrankten während der Skiferien in Italien und Österreich angesteckt, sind demzufolge meist jünger und fitter. Darüber hinaus ist das Land uneinheitlich betroffen, mit den meisten Infizierten in der Hauptstadt-Region um Stockholm, gefolgt von den Gebieten um Göteborg und Malmö herum.

Viele Infektionsfälle in Stockholm konzentrieren sich in den somalisch geprägten Einwanderervierteln der Hauptstadt. Die Familien leben vielfach in Mehrgenerationenhaushalten auf engem Raum zusammen, haben also keine Möglichkeit auf Abstand zu gehen, möglicherweise kommen auch die Informationen rund um das Corona-Virus schlecht bei ihnen an.

Freiheit des Einzelnen ist die Freiheit der Gesellschaft

Das zurückhaltende Vorgehen der Regierung im Kampf gegen Covid-19 ist auch mit der schwedischen Konsensgesellschaft zu erklären. Konflikte vermeiden und Kompromisse finden sind wichtige Werte für das Land mit seinen etwas mehr als zehn Millionen Einwohnern. Die Politiker üben sich deshalb im Spagat zwischen der Freiheit des Einzelnen, die es zu schützen gilt, und der Verhinderung einer Ausbreitung des Virus. Hinzukommt, dass die Menschen ihrer Regierung in hohem Maß vertrauen, so dass sie sich auch ohne Druck an deren Appelle halten. Die Maxime ist, der Gesellschaft gegenüber eigenverantwortlich zu handeln.

Schweden legt bei all seinen Maßnahmen im Kampf gegen das Virus Wert auf demokratische Legitimation. Bei Bedarf dürfen nun auch Grundschulen und Kindergärten geschlossen werden. Dieses vor Kurzem verabschiedete Gesetz haben alle Parteien im Parlament mitgetragen, was ein bisher seltenes Ereignis in dem ansonsten politisch stark polarisierten Land ist.

Dieses Gesetz war notwendig, da es der Regierung in Stockholm an Kompetenzen in der Gesundheits- und Bildungspolitik mangelt. Beide Bereiche gehören in das Aufgabenspektrum der Regionen und Kommunen. Die schwedische Regierung ist an sich sehr schlank. Viele Entscheidungs- und Durchführungskompetenzen sind an staatliche Agenturen ausgelagert. Im Fall der Pandemie ist die Regierung auf den Rat der mächtigen und eigenständigen der nationalen Gesundheitsbehörde angewiesen. Sie macht die wissenschaftlichen Vorgaben in der Corona-Krise und die Regierungspolitiker folgen.

Pandemie trifft auf abgespeckten Wohlfahrtsstaat

Doch die stetige Zunahme der Ansteckungen im Rest der Welt, die teils drakonischen Maßnahmen der Nachbarstaaten und die traumatischen Bilder aus Frankreich und Südeuropa sorgen auch für Unmut innerhalb des Landes. Wissenschaftler kritisieren die Intransparenz der berechneten Infektionszahlen, auf die sich die mächtige Gesundheitsbehörde bei ihren Entscheidungen bezieht. Es werde zu wenig, zu spät getan, heißt es von Medizinern aus Krankenhäusern. Dem Gesundheitssystem drohe eine Katastrophe, wenn der Scheitel der Infektionskurve in Schweden erreicht werde. Die Corona-Krise gilt als Lackmustest des vielgepriesenen schwedischen Wohlfahrtsstaats, der ähnlich dem NHS in Großbritannien ein starker Identifikationsfaktor der Schweden ist. Und das, obwohl seit einigen Jahren an gesundheitlichen Versorgungsleistungen gespart wird und vieles in dem Sektor privatisiert worden ist.

Beim renommierten Karolinska Institut in Stockholm wurden jüngst 600 Mitarbeiter entlassen: Pflegepersonal inklusive. Gerade auf dem Land wurde die Gesundheitsversorgung ausgedünnt, um Kosten zu sparen. Denn die Regierung verfolgte bis vor Kurzem eines der strengsten Schuldenverbote der Welt. Aktuell stehen gerade mal rund 520 intensivmedizinische Betten den mehr als zehn Millionen Einwohnern zur Verfügung. Sicherheitshalber stellt das Militär jedenfalls schon mal Behelfslazarette in den größeren Städten in Schweden auf.

Krise könnte 800.000 Menschen den Job kosten

Trotz der zurückhaltenden Vorgehensweise des schwedischen Staats ist die Wirtschaft bereits jetzt schwer von der Pandemie betroffen. Der schwedische Wirtschaftsboom ist abrupt zu Ende gegangen. Die großen Industrie- und Bauunternehmen haben ihre Beschäftigten und Arbeiter nach Hause geschickt. Die Bänder bei Volvo, Scania und Skanska stehen still. In der dritten Märzwoche hatten sich bereits 13.000 Menschen arbeitssuchend gemeldet. Das ist der höchste Anstieg der Arbeitslosigkeit in der jüngeren schwedischen Geschichte. Die Stockholmer Handelskammer hat berechnet, dass die Krise insgesamt 800.000 Menschen den Job kosten könnte. Es wird mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 10 Prozent bis zum Sommer gerechnet. Arbeitsmarktmaßnahmen werden im Moment zusammen mit den Sozialpartnern erarbeitet.

Unterstützungspaket für schwedische Wirtschaft

Um die Konjunktur zu stützen, will die Reichsbank 300 Milliarden SEK in den Geldmarkt pumpen. Die sozialdemokratisch geführte Minderheitsregiering hat bereits ein Unterstützungspaket für die schwedische Wirtschaft in Höhe von 300 Milliarden SEK (ca. 27 Milliarden Euro) verabschiedet. So sollen Unternehmen Steuern erlassen bekommen, die Lohnfortzahlungen von erkrankten Arbeitnehmern übernommen werden, kleinere und mittlere Unternehmen sowie Selbstständige unterstützt werden, etwa durch staatliche Kreditbürgschaften oder die Übernahme von Gewerberaummieten bis zu 50 Prozent. Der Luftfahrtsektor erhält Kreditgarantien in Höhe von fünf Milliarden schwedischen Kronen (453 Mio. Euro), von denen allein 1,5 Milliarden Kronen an die skandinavische Fluglinie SAS gehen werden.

Ob die wirtschaftspolitischen Instrumente ausreichen, um die Folgen der Pandemie abzufedern, hängt vom Erfolg der schwedischen Strategie in der Corona-Krise ab. Angesichts des zurückhaltenden schwedischen Vorgehens reibt sich die Welt jedenfalls die Augen. Doch die schwedische Regierung hält sich bei noch weiter reichenden Eingriffen in die Freiheit ihrer Landsleute zurück, um bei einer Verschärfung der Situation noch Handlungsoptionen zu haben. Andere Länder hätten dann ihr Pulver längst verschossen.

Autor*in
Philipp Fink

ist Direktor des Nordischen Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Stockholm.

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