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Corona in Chile: Neoliberalismus am sozialen Limit

Chile ringt um die Auswirkungen der Corona-Pandemie. In dem Land zeigen sich aber gleich in mehreren Bereichen die Probleme neoliberaler Entwicklungsmodelle. Eine Corona-Problemanalyse in drei Punkten.
von Simone Reperger · 12. Mai 2020
In Chile bringt die Corona-Pandemie die neoliberale Wirtschaft an den Rand des Kollaps.
In Chile bringt die Corona-Pandemie die neoliberale Wirtschaft an den Rand des Kollaps.

In Chile verschärft das Corona-Virus die Probleme des neoliberalen Entwicklungsmodells, gegen das in den vergangenen Monaten Millionen von Chileninnen und Chilenen auf der Straße protestierten. Die Pandemie zeigt, dass in diesem südamerikanischen Land wirtschaftliche vor gesellschaftliche Interessen gestellt werden. Dadurch werden drei Krisen noch sichtbarer:

Erstens - Die Gesundheitskrise: In Chile haben die Menschen kein „Recht auf eine Gesundheitsversorgung“. Das Gesundheitssystem ist seit der Pinochet-Diktatur weitgehend privatisiert. Die 15 Prozent der reichsten Chilenen können sich Behandlungen in gutausgestatten Krankenhäusern leisten. Die anderen 85 Prozent der Gesellschaft sind allerdings darauf angewiesen, im Ernstfall in einem der völlig unterfinanzierten öffentlichen Krankenhäuser versorgt zu werden. Jährlich sterben dort mehr als 25 000 Menschen, weil die Wartezeiten zu lange sind und es selbst an Antibiotika fehlt. Wer keine gedeckte Kreditkarte besitzt, hat schlechte Karten zu Zeiten der Pandemie.  Diese ungleiche Gesundheitsversorgung kritisierten vor kurzem renommierte Menschenrechtsanwälte als eine gravierende Menschenrechtsverletzung. Die Chilenen sind daher sehr besorgt. Und sehr wütend.

Zweitens: Die soziale Krise: Schon jetzt zeigt sich, dass Coronavirus die Arbeitslosigkeit und Armut in Chile deutlich erhöhen und die Soziale Ungleichheit weiter verstärken wird. Vor allem die „einfachen“, schutzlosen Arbeiterinnen und Arbeiter trifft es hart. Hintergrund ist, dass Mitte März der Präsident den Katastrophenzustand ausgerufen hat. Alle Schulen, viele Geschäfte und Betriebe sind geschlossen; Ausgangssperren verhängt. Daraufhin kam es schnell zu großen Entlassungswellen. Bereits mehr als eine Million Menschen haben von einem Tag auf den anderen Tag ihr Einkommen verloren. Insbesondere internationale Großkonzerne wie H&M und Starbucks entließen ihr gesamtes Personal. Die Regierung schnürte zwar große staatliche Rettungsprogramme für die Unternehmen, bietet aber kaum staatliche Hilfe für ihre Bürgerinnen und Bürger an. Der geltende Kündigungsschutz wird meist nicht eingehalten und Kurzarbeitergeld in Höhe von ca. 40 Prozent des Lohnes gibt es nur drei Monate und wird von den Arbeitnehmern zu 100 Prozent selbst gezahlt – nämlich aus ihrer Rentenkasse.

Schutzlos ohne Arbeitsvertrag

Jeder 2. Chilene arbeitet im informellen Sektor - ohne Arbeitsvertrag und ohne jegliche Rechte. Hausangestellte, Bauarbeiter, Kellner, Straßenverkäufer, Taxifahrer, sie alle sind vollkommen schutzlos. Der Markt wird gerettet, die Menschen vergessen – so kritisieren Sozialverbände und Gewerkschaften die aktuelle Politik. Für Empörung sorgte, dass einige Großunternehmen keine Löhne mehr zahlen, aber noch hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausgeschüttet haben – das ist völlig legal in Chile. Es gibt hier keinen „starken Staat“ der die Arbeitsplätze seiner Bürgerinnen und Bürger schützt und einen Interessenausgleich zwischen Unternehmen und Angestellten garantiert. Chile ist damit kein Einzelfall in Lateinamerika und der Karibik. Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen geht davon aus, dass aufgrund der Pandemie in der Region die Armut um 50 Prozent steigen und Ende 2020 schätzungsweise 90 Millionen Menschen in Armut leben werden. Es droht ein verlorenes Jahrzehnt für den Subkontinent.

Drittens - Die Demokratiekrise: Auch für die Demokratie in Chile sind es keine rosigen Zeiten. Die Pandemie verstärkt auf ein Neues die Distanz zwischen den Menschen und der Politik. Über 90 Prozent sagen, dass die Regierung Politik zum Wohle der mächtigen Wirtschaftselite macht. Nur 2 Prozent geben an, dass eine Partei ihre Interessen vertritt. Die sozialdemokratische Opposition ist fragmentiert und schweigt. Sie bietet damit keine glaubwürdige Alternative. Das sind besorgniserregende Zahlen in einer repräsentativen Demokratie. Die chilenische Protestbewegung fordert im Kern seit Monaten vehement mehr soziale Sicherheit und mehr soziale Gerechtigkeit. Doch sie spürt, dass sie beides von ihrer Regierung auch in Zeiten des Corona-Virus nicht bekommen wird. Zudem besteht die Gefahr, dass der Präsident die Pandemie zum Anlass nehmen könnte, um die chilenische Demokratie auszuhöhlen. Es herrscht ein striktes Versammlungsverbot, jegliche Proteste sind auf unbestimmte Zeit untersagt. Am 1. Mai ging die Polizei äußerst brutal gegen Gewerkschaftskundgebungen vor.  Große Shoppingcenter durften dagegen zum verkaufsoffenen Sonntag einladen – dort sah die Regierung keine Ansteckungsgefahr.

Problematisch ist, dass seit Ausbruch des Coronavirus beinahe täglich Stimmen aus der rechts-konservativen Regierungskoalition laut werden, die eine Absage des Referendums über eine neue Verfassung fordern. Die Erarbeitung eines neuen Grundgesetzes ist eine der Hauptforderungen der Protestbewegung, um künftig Privatisierungen rückgängig zu machen und die Rolle des Staates zu stärken. Das Argument der Regierungsvertreter lautet: Aufgrund der Pandemie und der einsetzenden Wirtschaftskrise kann sich Chile keine weitere Unsicherheit für den Markt und damit keinen Verfassungsprozess leisten. Würde dieses Szenario eintreten, wäre die Qualität der chilenischen Demokratie stark beschädigt.  Und der Markt hätte mal wiedergewonnen – wie so oft in der chilenischen Geschichte.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal am 8. Mai.

Autor*in
Simone Reperger

Simone Reperger ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Landesvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile. Zuvor war sie für die Stiftung in Uruguay und als Leiterin des Regionalen Gewerkschaftsprojektes für Lateinamerika und Karibik tätig.

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