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Chile unter Gabriel Boric: Umbruch nach der Wahl mit Allendes Enkel?

Gabriel Boric, politischer Enkel von Salvador Allende, hat die Wahl in Chile gewonnen. Sozialdemokratische Ankündigungen haben ihm einen historischen Sieg beschert. Er steht vor großen Herausforderungen, Unterstützung aus Europa könnte helfen.
von Conny Reuter · 31. Dezember 2021
Gabriel Boric, politischer Enkel von Salvador Allende, ist neuer Präsident Chiles.
Gabriel Boric, politischer Enkel von Salvador Allende, ist neuer Präsident Chiles.

Mitte Dezember fand der zweite Wahlgang der chilenischen Präsidentschaftswahlen statt. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent außergewöhnlich hoch und es siegte der progressive, linke, jüngste Kandidat: Gabriel Boric erhielt den höchsten Stimmenanteil, den je ein Wahlsieger in der Demokratie erzielte: 4,6 Millionen von 8,3 Millionen abgegebenen Stimmen. Das Ergebnis war deutlicher als erwartet und noch am Abend versammelten sich allein auf den Straßen von Santiago mehr als eine Million Menschen und feierten den Wahlsieger.

In seiner fulminanten Ansprache machte Boric deutlich, dass seine Regierung den Anspruch hat, Chile voran zu bringen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Damit traf er in seinem Wahlkampf das Empfinden vieler Menschen in Chile, die unter der sozialen Spaltung leiden und am gesellschaftlichen Fortschritt teilhaben wollen.

Boric knüpft an Umbruchsprozess an

Der Wahlsieg Boric‘ ist im gewissen Sinne die Fortsetzung des Umbruchprozesses, der am 18. Oktober 2019 begann und bis zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit aufgrund der Corona-Maßnahmen im März 2020 zu zahlreichen, beeindruckenden Massendemonstrationen im ganzen Land geführt hatte.

Regierung und parlamentarische Opposition hatten sich als Reaktion auf die Massenproteste auf ein Plebiszit zur Einrichtung einer verfassungsgebenden Versammlung geeinigt, die im Oktober 2020 von 78 Prozent befürwortet wurde. Seitdem tagt diese Versammlung, in dem sich nur wenige Vertreter*innen der politischen Parteien wiederfinden, im Gegensatz zur Zivilgesellschaft und Strömungen, die sich durch ebendiese Parteien nicht mehr vertreten fühlen.

Dazu zählen auch die beiden sozialdemokratischen Parteien, Partei für die Demokratie (PPD) und die Sozialistische Partei Chiles (PS). Beide hatten für die Präsidentschaftswahlen eigene Kandidat*innen aufgestellt, die sich in den Vorwahlen jedoch nicht durchsetzen konnten. So setzten PPD und PS das fort, was zu den früheren Wahlerfolgen von Ricardo Lagos und Michele Bachelet beigetragen hatte: ein Bündnis mit den Christdemokraten, eben jenen, die sich 1973 dem Putschisten Pinochet nicht entschlossen in den Weg gestellt hatten.

Machtverschiebung im Linken Lager

Seit der Wiedererlangung der Demokratie konnte Mitte-Links mit Unterstützung der Linken gewinnen, diesmal haben sich die Verhältnisse aber umgekehrt: es gewann Links mit der Unterstützung von Mitte-Links. Die politische Rechte hatte versucht Gabriel Boric, den ehemaligen Studentenführer und Kandidat des Frente Amplio als Kommunisten zu brandmarken, obwohl sich Boric sowohl von Maduro (Venezuela) als auch von Ortega (Nicargua) deutlich distanziert hatte.

Leider gilt auch für diese Wahl, dass mit einer gewonnenen Wahl nichts gewonnen ist. Zwar ist das Ergebnis eindeutig und wurde von niemand in Frage gestellt, aber die Probleme derer sich Boric’s Regierung annehmen muss, sind gewaltig: Die weiter wütende Pandemie, ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die gesellschaftliche Spaltung und die scheinbar zementierte ungerechte Verteilung des Reichtums. Das reichste ein Prozent der Bevölkerung Chiles verfügt allein über 27 Prozent des nationalen Reichtums.

Boric stellt dem eine progressive Agenda entgegen, die eindeutig sozialdemokratisch geprägt ist, ohne sich dieses Etikett geben zu wollen: Gesundheit und Erziehung als öffentliche Güter, Reform der Pensionen, gute Arbeit und vor allem Steuergerechtigkeit und Finanzen, ohne die diese Agenda nicht umsetzbar sein wird.

Widerstand aus Wirtschaft und Militär zu erwarten

Die Einführung der neuen Regierung wird am 11. März 2022 stattfinden. Bis dahin muss die anspruchsvolle Reformagenda konkretisiert werden und eine kompetente Regierung gebildet werden. Letzteres wird ein Spagat angesichts der fehlenden Regierungserfahrung von Boric’s Team und der Entschlossenheit seiner Gegner: der konservativen Oligarchen, Unternehmer*innen und Wirtschaftsverbände, die keine Zugeständnisse machen wollen und in deren Hand sich die Medien befinden.

Das Militär und die paramilitärische Polizei (Carabiñeros) sind ebenfalls Staat im Staate und verfügen über zahlreiche Privilegien, die sie sicher nicht für einen wirklichen Demokratisierungsprozess aufgeben wollen. Offen ist zudem noch die strafrechtliche Aufarbeitung ihrer zahlreichen Menschenrechtsverletzungen während der Massenproteste 2019/20.

Regierungswechsel bedeutet in Chile einen Umbruch in Staat und Verwaltung, den wir in Deutschland in dem Umfang nicht kennen: die neue Regierung muss circa 60 Botschafter*innen und knapp 2000 leitende Funktionen der Zentralregierung auf Landes und Regionalebene neu benennen.

Da Boric über keine Mehrheiten in Parlament und Senat verfügt, muss er breite Allianzen bilden und vor allem den verfassungsgebenden Prozess beschleunigen. Damit kommen wiederum die PS und PPD ins Spiel, die in beiden Kammern vertreten sind und über Regierungserfahrung verfügen.

Perspektive für ganz Lateinamerika

Die SPD und die europäische Sozialdemokratie sollten die Reformagenda Boric’s entschlossen unterstützen und nicht erst einmal abwarten. China ist in Lateinamerika bereits stark präsent und hat der neuen Regierung schon Angebote unterbreitet. Die USA sind angesichts der unrühmlichen Vergangenheit als Unterstützer nicht nur des Putsches gegen Allende 1973 nicht glaubwürdig. Auch wenn Präsident Biden versucht hat, mit seinem Demokratiegipfel ein Zeichen zu setzen.

Die Erwartungen an Boric sind enorm, die Chance zur Veränderung besteht und wir sollten nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte betrachten: Boric in Chile und wahrscheinlich Lula im kommenden Jahr in Brasilien können Lateinamerika eine neue Perspektive für gesellschaftlichen Fortschritt, Reduzierung der Ungerechtigkeit und für Nachhaltigkeit geben.

Boric, der Enkel, hat sich bei seinem ersten Besuch im Präsidentenpalast La Moneda am Tag nach seiner Wahl vor der Büste von Salvador Allende verneigt. Geschichte soll sich nicht wiederholen, aber die Aufbruchsstimmung in Chile erinnert schon sehr an die Unidad Popular mit Salvador Allende. Das Problem ist nur, dass das Volk noch nicht geeint, aber sehr ungeduldig ist.

Autor*in
Conny Reuter ist Koordinator der „Progressiven Allianz“.
Conny Reuter

war bis 2023 Koordinator der „Progressiven Allianz“, einem internationalen Netzwerk von 113 sozialdemokratischen, sozialistischen und progressiven Parteien aus der ganzen Welt.

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