International

Chile nach der ersten Wahlrunde: Demokratie in Gefahr

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen ist die Zukunft Chiles ungewiss. Die Fortschritte der vergangenen 30 Jahre in der Demokratie sind in Gefahr, die Progressiven müssen kämpfen.
von Marcela Ahumada Ochoa · 23. November 2021

Die Zukunft Chiles ist nach den Wahlergebnissen von Montag ungewiss. José Antonio Kast, Vertreter der extremen Rechten, erhielt 27,92 Prozent der Stimmen und Gabriel Boric, Vertreter der Frente Amplio, die von der Kommunistischen Partei unterstützt wird, 25,80 Prozent. Beide werden sich am 19. Dezember einem zweiten Wahlgang stellen und versuchen, sich mit den übrigen Kandidaten, die es nicht in die zweite Runde geschafft haben, zu einigen und diejenigen, die nicht gewählt haben, zu mobilisieren.

Wahlbeteiligung unter 50 Prozent

Gestern haben nur 47,34 Prozent der Wähler*innen ihre Stimme im Rahmen eines freiwilligen Wahlsystems abgegeben. Die Kandidatin der sozialdemokratischen Parteien, der PS Chile (Schwesterpartei der SPD) und der Partei für Demokratie (PPD), Yasna Provoste von der Christdemokratischen Partei, erhielt nur 11,62 Prozent. Damit wird die Mitte-Links-Koalition, die das Land 30 Jahre lang regiert hat, bei den nächsten Wahlen im Dezember zum ersten Mal nicht mehr vertreten sein.

Angesichts der Unsicherheit, in der wir heute leben, haben sowohl die Sozialistische Partei als auch die Partei für Demokratie dazu aufgerufen, Gabriel Boric bedingungslos zu unterstützen. In der Zwischenzeit wird die Christlich-Demokratische Partei nach einer nationalen Versammlung, die in den nächsten Tagen stattfinden wird, über ihre Unterstützung entscheiden. Vermutlich wird sie einige Bedingungen für ihre Unterstützung stellen.

Kriminalität und Abstiegsängste

Dieses Ergebnis lässt sich durch mehrere Gründe erklären, aber es scheint mir, dass das mangelnde Vertrauen in die politischen Parteien in Zeiten der multiplen Krisen erschüttert ist. Hinzu kommt ein Diskurs mit übermäßiger leerer Rhetorik und ohne Vorschläge, die nicht in der Lage waren, auf die Sorgen und Ängste einer Bevölkerung einzugehen, die tagtäglich mit Kriminalität, Drogenhandel und dem Verlust ihres Wohnraums und anderen Abstiegsängsten lebt. 

Kast konnte seinerseits diese Bedenken mit seiner Rhetorik zu Frieden, Sicherheit, Verbrechensbekämpfung, Drogenhandel und Migration aufgreifen. Außerdem war Kast in der Lage, den kleinen und mittleren Selbstständigen und Unternehmer*innen eine gewisse Sicherheit zu versprechen, damit sie weiter von ihren Geschäften leben können, indem er diejenigen, die ihre Geschäfte oder kleinen Unternehmen ausplündern, die volle Härte des Gesetzes androhte.

Demokratie nach 17 Jahren Diktatur erhalten

Wir Progressiven haben Traumata aus der Vergangenheit im Umgang mit Gewalt und Kriminalität. 17 Jahre Diktatur sind so sehr in unseren Körpern imprägniert und es fällt uns sehr schwer, über Sanktionen, Ordnung und öffentliche Gewalt zu sprechen. Wir müssen lernen, Gewalt und Terrorismus beim richtigen Namen zu nennen und konkrete Maßnahmen vorschlagen, um das Problem des Vandalismus, des Drogenhandels, der unkontrollierten Migration im Norden unseres Landes und der Sicherheitsprobleme in La Araucania anzugehen; beginnend mit dem Anzünden von Forstfahrzeugen, dem Niederbrennen von Privathäusern und der Ermordung von Mapuche-Jugendlichen als Folge der von dieser Regierung vorgeschlagenen und vom Kongress der Republik unterstützten unverhältnismäßigen Militarisierung des Gebiets. 

Progressive müssen kämpfen

Uns bleiben nur wenige Tage, um zu versuchen, unsere Botschaft an die Wähler, die nicht zur Wahl gegangen sind, zu vermitteln. Aber diese Arbeit muss ohne Euphemismen erfolgen, in der Hoffnung, dass es den Progressiven und Demokrat*innen möglich ist, die Probleme, die die Menschen plagen, anzusprechen und in Angriff zu nehmen.

Heute müssen wir auf eine einfache Art und Weise kommunizieren, damit die Botschaft gehört wird, und vor allem müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um alle Progressiven zu erreichen, die unter einem gemeinsamen Ziel und ohne Schuldzuweisungen der Vergangenheit vereint sind. Wir müssen auch uns selbst mobilisieren, die Frauen, die Studierenden, die Kulturschaffenden, die Gewerkschaften, die verschiedenen Sozial- und Menschenrechtsorganisationen. Wir dürfen nicht all die Fortschritte verlieren, die wir in den letzten 30 Jahren in der Demokratie gemacht haben. Für einige mag das nicht viel sein, aber für die große Mehrheit war es ein Licht nach einer dunklen Nacht, die 17 Jahre dauerte.

Aus dem Spanischen übersetzt von: Conny Reuter

Autor*in
Marcela Ahumada Ochoa

ist Direktorin der Salvador Allende Stiftung / Chile.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare