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Castellucci über das Flüchtlingscamp auf Lesbos: „Eine völlige Katastrophe“

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci hat im Februar das griechische Flüchtlingslager auf Lesbos besucht. Im Interview spricht er von katastrophalen Zuständen und dringend notwendiger Hilfe. Langfristig soll es Asylzentren unter europäischer Verantwortung geben.
von Benedikt Dittrich · 5. März 2020
Auf der griechischen Insel Lesbos kommen immer wieder Boote mit Geflüchteten an, viele von ihnen sind unbegleitete Minderjährige.
Auf der griechischen Insel Lesbos kommen immer wieder Boote mit Geflüchteten an, viele von ihnen sind unbegleitete Minderjährige.

Lars Castellucci, Sie waren vor kurzem noch in Griechenland vor Ort. Was haben Sie dort gesehen?

Ich war in Athen und auf Lesbos. Auf Lesbos gibt es das größte Flüchtlingscamp auf europäischem Boden. Man kann sich das so schlimm vorstellen wie möglich, dann trifft man es ungefähr. Ich war noch an einem von den Witterungsverhältnissen her relativ schönen Tag dort. Aber es hatte auch schon geschneit und wenn es regnet, regnet es überall rein. Das sind zum Teil Sommerzelte, die auf dem nackten Boden stehen, ohne einen befestigten Untergrund. 170 Menschen müssen sich dort eine Toilette teilen. Das Lager ist für etwa 2800 Personen ausgelegt, jetzt leben dort ungefähr 22.000, in und um das Lager herum. Ich bin als Einzelperson dort gewesen, war von niemandem abhängig, hatte aber auch keine Erlaubnis. Ich bin teilweise unter den Zäunen durchgekrochen.

Was haben Sie dort noch erlebt?

Ich konnte mir alles anschauen. Von den hygienischen Bedingungen, von der medizinischen Betreuung, von der Organisation der Asylverfahren ist das eine völlige Katastrophe. Am bedrückendsten war für mich, dass dort überall Kinder waren. Die gehören da einfach nicht hin.

Wie viele von den Geflüchteten sind dort nach Ihren Schätzungen Minderjährige?

Rund ein Drittel. Die wuseln da überall herum. Das ist in der Umgebung ein schlimmes Bild, selbst wenn sie dort spielen und fröhlich sind. Dann geht man zwei Zelte weiter und dann sitzt da ein Kind völlig in sich gekehrt. Das hat mich am stärksten berührt und da müssen wir was tun.

Die EU hatte Anfang der Woche schon 700 Millionen Euro Finanzhilfe für die griechische Regierung zugesagt. Kann das Geld irgendwie ankommen?

Ich habe auch im Bundestag für eine europäische Lösung plädiert. Im Sinne einer Koalition der Menschlichkeit von einigen Staaten, die bereit dazu sind. Daran halte ich auch fest. Wir haben gelernt, dass Europa keine Schönwetterveranstaltung ist. Wir müssen um gute Lösungen ringen, auch wenn es schwierig ist. In so eine Koalition können wir uns jetzt auch einklinken. Es gibt genug Länder, die bereit sind, Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen, etwa Frankreich, Finnland, Portugal und die Schweiz. Eine europäische Lösung ist also möglich und deshalb sollte die Union die Rettung von Menschen nicht länger blockieren.

„Müssen jetzt schnell und direkt helfen“

Was die unmittelbare Hilfe angeht: Wir haben vor Weihnachten 55 Lastwagen mit Decken und anderen Materialien losgeschickt. Vor meiner Reise im Februar sickerte dann durch, dass diese Materialien noch im Hafen von Athen lagern. Die haben die Menschen auf Lesbos also gar nicht erreicht. Der griechische Integrationsminister ließ dann ausrichten, dass das Material gar nicht für das Lager dort verwendet werden sollte. Das ist natürlich ein Skandal. Wenn humanitäre Hilfe geleistet wird, muss sichergestellt sein, dass sie ankommt. Deswegen müssen wir jetzt schnell und direkt helfen, erst recht bei medizinischen Notfällen.

Die Grenzsicherungsagentur Frontex hat vor kurzem auch zusätzliches Personal an die griechische EU-Außengrenze verlegt. Hilft das bei der Bewältigung der aktuellen Situation?

Ich will es so sagen: Die SPD steht für Hilfe für Menschen in Not, für Humanität für die Einhaltung der Menschenrechte. Aber wir stehen auch für einen handlungsfähigen Staat. Wenn alles chaotisch ist, kann man keine Hilfe leisten. Deswegen ist es richtig, wenn gleichzeitig in die Sicherung der Grenzen investiert und für geordnete Verhältnisse gesorgt wird. Und zwar so, dass niemand dort zu Schaden kommt.

Asylzentrum auf Lesbos als Pilotprojekt

Es gibt Berichte darüber, dass dort Tränengas eingesetzt wurde, Menschenrechte verletzt wurden. Welche Hoffnung haben Sie für die Mittel- und langfristige Perspektive für die Region?

Wir entwickeln Lösungen dafür in der Arbeitsgruppe Migration und Integration. Dabei geht es auch darum, wie es mit dem europäischen Asylsystem insgesamt weitergeht. Einige der Punkte sind auch in den aktuellen Beschluss mit eingeflossen. Kurzfristig geht es um direkte Hilfe. Mittelfristig, mit Blick auf die Ratspräsidentschaft von Deutschland im zweiten Halbjahr, soll auf der Insel Lesbos ein Asylzentrum entstehen, wo Asylverfahren durchgeführt werden können. Als Pilotprojekt, von der Europäischen Union verantwortet. Man bekommt nicht von heute auf morgen eine perfekte Lösung hin, aber man könnte mal an einem Ort zeigen, wie es gehen könnte. Das wäre der zweite Schritt.

Warum unter europäischer und nicht griechischer Verantwortung?

Damit es nicht so wirkt als ob Griechenland es nicht könnte und jetzt die ganzen Beamten von allen anderen Ländern dorthin kommen und alles besser wissen. Das funktioniert nirgendwo. Es muss eine gemeinsame Verantwortung geben, eine klare Organisationsstruktur. Deswegen in europäischer Verantwortung. Das ist die Idee dahinter.

Und langfristig, abseits von Lesbos?

Wir haben eine Vorstellung von einem gemeinsamen europäischen Asylsystem, in dem es faire und schnelle Verfahren gibt, sodass wir Schutzbedürftige von anderen Migranten schnell unterscheiden können. Es geht darum, dass sich Menschen, die keine Bleibeperspektive haben, gar nicht erst auf den gefährlichen Weg machen, um dann später wieder zurück zu müssen. Für diese Menschen müssen wir legale Wege der Arbeitsmigration ermöglichen, wie wir es mit dem Einwanderungsgesetz in Deutschland begonnen haben. Wenn die Menschen sich dafür qualifizieren, sollen sie hier arbeiten oder studieren dürfen.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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