Bundestagspräsidentin Bas: Dürfen uns nicht an Ukraine-Krieg gewöhnen
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Vor einigen Tagen sind Sie in die Ukraine gereist, um dem Jahrestag des Kriegsendes zu gedenken und sich selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Wie haben Sie das Land erlebt?
Es hat mich tief erschüttert, die Spuren der Zerstörungen und Kriegsverbrechen in Butscha und Irpin zu sehen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben in den letzten Monaten unmenschliches Grauen erlebt. Diese Bilder werde ich nicht vergessen. Nicht vergessen werde ich auch meine Gespräche mit meinem Amtskollegen Ruslan Stefantschuk, mit Ministerpräsident Denys Schmyhal und mit Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Ich habe in allen Gesprächen eine große Entschlossenheit erlebt, das Land zu verteidigen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben den starken Willen, für ihr Land und ihre Freiheit zu kämpfen. Sie glauben an ihren Sieg. Diese Unbeugsamkeit und dieser Mut haben mich sehr beeindruckt.
Mit welchen Gefühlen haben Sie diese Reise angetreten? Es ist schließlich noch nicht lange her, dass Rakete in Kiew eingeschlagen sind.
Mir war diese Reise sehr wichtig. Ich wollte durch meinen Besuch zeigen, dass Deutschland fest an der Seite der Ukraine steht. Gleichzeitig wollte ich auf die Gefahren und das Leid hinweisen, dem die Ukrainerinnen und Ukrainer seit dem russischen Überfall ausgesetzt sind. Wir haben diese Reise sorgfältig vorbereitet. Dabei war mir bewusst, dass diese Reise in ein Kriegsgebiet führt und ein Risiko darstellt – für die Mitglieder meiner Delegation und für mich persönlich. Eine derartige Reise sollte man nur aus guten Gründen unternehmen.
Nach Ihrer Rückkehr haben Sie gesagt, die Verstimmungen zwischen der Ukraine und Deutschland seien beigelegt. Was hat dazu geführt?
Ich hatte in all meinen Gesprächen dort den Eindruck, dass der Ukraine viel am guten Verhältnis zu Deutschland liegt und Deutschland als wichtiger Partner in Kiew wahrgenommen wird. Deshalb war es gut, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj telefoniert haben, um Missverständnisse auszuräumen und die Dinge ins Lot zu bringen. Deutschland unterstützt die Ukraine humanitär, finanziell und militärisch. Und seit vergangener Woche hat auch die Botschaft in Kiew ihren Dienst wieder aufgenommen.
Die Ukraine möchte Mitglied der EU werden. Sie unterstützen das und sagen, eine Aufnahme dürfe „nicht Jahrzehnte“ dauern. Warum ist die EU-Mitgliedschaft für die Ukraine so wichtig?
Die Ukraine kämpft für ihre Freiheit, als Demokratie ihren eigenen Weg zu gehen und mit ihren selbst gewählten Partnern zusammenzuarbeiten. Sie sieht sich als Teil der europäischen Wertegemeinschaft und hat das Ziel der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2019 in ihrer Verfassung verankert. Die EU-Mitgliedschaft würde die Ukraine in jeder Hinsicht stärken und klar machen, dass sie nicht zu Putins Einflusssphäre gehört. Eine starke, freiheitliche und demokratische Ukraine ist auch in unserem Interesse. Wir sollten die Ukraine auf diesem Weg nach Kräften unterstützen und den Menschen in der Ukraine eine Perspektive bieten. Erinnern wir uns: Bei der Gründung der EU war es das Ziel, den Krieg in Europa zu überwinden.
Der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen fast ein Vierteljahr. Ein schnelles Ende ist nicht abzusehen. Fürchten Sie, die Weltöffentlichkeit gewöhnt sich schleichend an diesen Krieg?
Es war mir wichtig, mit meinem Besuch auch das Signal zu setzen: Wir dürfen uns nicht an diesen Krieg gewöhnen! Wir dürfen uns nicht an Kriegsverbrechen, Zerstörung und menschliches Leid gewöhnen! Wir müssen die Ukraine weiter nach Kräften unterstützen – dabei sich selbst zu verteidigen und ihr Land wieder aufzubauen. Und wir müssen weiter solidarisch bleiben mit den ukrainischen Geflüchteten, die bei uns ankommen. Wir dürfen nicht abstumpfen oder gleichgültig werden angesichts dieses Leids! Genau deshalb sind wir als Bundestagspräsidium der Bitte meines Amtskollegen Ruslan Stefantschuk nachgekommen und zeigen aktuell im Deutschen Bundestag die Fotoausstellung „Die Ukraine: Der Preis der Freiheit“. Diese Ausstellung wird von der ukrainischen Botschaft in Berlin präsentiert und von der Ukraine-Hilfe Berlin in Verbindung mit der Ukrainisch Orthodoxen Kirchengemeinde Berlin kuratiert. Sie zeigt Fotos von Tod, Leid und Zerstörung. Es sind Bilder, die schockieren, verstören und Angst machen. Wir müssen aber trotzdem hinsehen, denn diese Fotos zeigen Ausschnitte einer entsetzlichen Wirklichkeit. Auch deshalb war ich vergangene Woche in der Ukraine: Um mir ein selbst ein Bild von dieser entsetzlichen Wirklichkeit zu machen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.