Buch „Neuvermessungen“: Wie Sigmar Gabriel die Welt sieht
Thomas Koehler/photothek.net
Dass Jean-Claude Juncker an diesem Montag in der niedersächsischen Landesvertretung in Berlin sitzt und Sigmar Gabriels Buch vorstellt, ist in erster Linie einem Missverständnis zu verdanken. So zumindest erzählt es der Präsident der EU-Kommission den Journalisten. Gabriels Buch mit dem Titel „Neuvermessungen“ habe ihn von Anfang an fasziniert. „Ich dachte, Sigmar Gabriel hätte kenntnisreich über seinen Leibesumfang geschrieben.“
Nun kennen sich Juncker und Gabriel schon lange, gelten als Freunde. Insofern wird der deutsche Außenminister Juncker diesen Scherz nicht übel genommen haben – zumal Gabriel seit Jahresbeginn deutlich an Gewicht verloren hat. So sitzen die beiden nebeneinander und grinsen gelöst in die Kameras.
Juncker: Europa nur begrenzt weltpolitikfähig
Als es um die wirklichen Inhalte von Gabriel Buch geht, wird Juncker dann auch ernst. Das Buch sei „dicht geschrieben“ und behandle alle Themen, die die Welt in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen würden: von der Solidarität im Euroraum über Migrationsfragen bis hin zur Gestaltung der Globalisierung. „Europa durchdringt das gesamte Buch – und das ist auch gut so“, freut sich Juncker.
Das sei umso wichtiger, da sich die EU „demografisch auf dem absteigenden Ast“ befinde. „Europa ist der kleinste Kontinent, aber wir führen auf, als wären wir die Herren der Welt“, sagt Juncker. Sein Urteil: „Europa ist nicht in vollem Umfang weltpolitikfähig.“ Auch deshalb sei er froh, „dass Sigmar Gabriel in seinem Buch klarmacht, dass Europa für seine Sicherheit selbst verantwortlich ist“.
Ein „Kompass für die globalisierte Welt“
„Europa ist ein Schatz, der uns übergeben worden ist“, sagt Gabriel. Es gebe keine andere Region in der Welt, in der „so demokratisch und sicher gelebt werden kann“. Sein Buch sei größtenteils bereits entstanden, bevor er Ende Januar Außenminister wurde. „Ich habe es in erster Linie für mich geschrieben, um mir selbst über meinen Blick auf die Welt klar zu werden“, gesteht Gabriel. Er nennt sein Buch einen „Kompass für die globalisiere Welt“.
Auf 236 beschreibt Gabriel die Umbrüche, mit denen die internationale Politik derzeit zu tun hat. Er sagt, welche Chancen und Gefahren das digitale Zeitalter für die Demokratie birgt und fordert mehr „Mut zur Einwanderungsgesellschaft“. Ein eigenes Kapitel widmet Gabriel den „Herausforderungen von Rechts“, in dem er auch ausführlich auf die Debatte über die Thesen von Thilo Sarrazin zurückblickt. Dass es nicht gelungen sei, Sarrazin aus der SPD auszuschließen, bezeichnet der frühere Parteichef als seine „größte Niederlage“.
Die „Orthodoxie des Sparens“ beenden
Gabriels Perspektive bleibt im gesamten Buch stets europäisch. „Ich trete für ein anderes Europa ein als für das, das wir heute haben“, sagt der Außenminister auch bei der Buchvorstellung. Seine Ideen deckten sich größtenteils mit denen des künftigen französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Beide hatten bereits im Juni 2015 in einem Gastbeitrag für die „Welt“ erklärt, „warum Europa zu einer Sozialunion werden muss“.
Auch am Montag fordert Gabriel „die Orthodoxie des Sparens“ in Europa zu beenden. Deutschland müsse seine Haltung in dieser Frage grundlegend ändern. „Wir müssen mehr in Europa investieren.“ Für Länder wie Frankreich, die große Umstrukturierungen zu schultern hätten, verlangt der Außenminister mehr Nachsicht, wenn diese gegen die Maastrichter Kriterien bei der Neuverschuldung verstießen. Nicht umsonst handele es sich um einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, bei dem das Wachstum nicht vernachlässigt werden dürfe.
Junckers Lob für Macrons Vorschläge
Auch Jean-Claude Juncker ist für eine flexiblere Auslegung der Maastrichter Kriterien, wie sie auch Emmanuel Macron fordert. „Alles, was Macron sagt, ist mir sehr sympathisch“, erklärt der EU-Kommissionspräsident. Einige Ideen, wie etwa der Vorschlag eines europäischen Finanzministers, seien aber nur sehr schwer umzusetzen. Und auch Gabriels Ideen der „Neuvermessungen“ gefallen Juncker, auch wenn er sicher ist: „Sigmar Gabriel hätte deutlich mehr zu sagen als auf 236 Seiten passen.“
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.