Brüssel spielt auf Zeit
Die Ausgangslage war klar: Vom vierten Gipfeltreffen zwischen der EU und sechs Staaten der 2009 ins Leben gerufenen Östlichen Partnerschaft hat kaum jemand einen entscheidenden Durchbruch erwartet. Die Östliche Partnerschaft wurde als ein friedensstiftendes Projekt konzipiert, das die politischen und wirtschaftlichen Reformen im Osten des Kontinents vorantreiben soll und eine gewisse Ruhe an der EU-Ostgrenze garantiert. Ferner möchte man damit die Länder der ehemaligen Sowjetunion trösten, die eine EU-Vollmitgliedschaft anstreben, aber nicht mal mit einem Kandidatenstatus belohnt werden könnten (Georgien, Moldawien und die Ukraine).
Eine zweite Gruppe der Partnerstaaten (Belarus und Armenien) orientiert sich eher in Richtung Russland, will dennoch ihre Beziehungen zum europäischen Westen verbessern. Aserbaidschan besteht auf einen Sonderstatus. Die Regierung in Baku hat offensichtlich ihre eigene Zukunftsvision: das Ölvorkommen als Ressource für den Wirtschaftsaufschwung unter der Prämisse des Beibehalten von autoritärer Herrschaftsform. Diese Dreierteilung der Partnerländer bzw. ihre Prioritätenvielfalt macht jede Kompromisssuche a priori sehr schwierig.
Planung der Quadratur des Kreises
Darüber hinaus steckt Brüssel in einer Zwickmühle. Nach dem vergangenen Treffen 2013 in Vilnius änderte sich die geopolitische Karte Europas gravierend. Die Tagespolitik zwingt Brüssel, eine Quadratur des Kreises zu planen. Zum Ersten sind die Beziehungen zu Russland auf dem tiefsten Stand seit Beendigung des West-Ost-Konfliktes. Die Unterzeichnung bzw. Nichtunterzeichnung des Assoziationsabkommens der Ukraine mit der EU galt als Reaktionsbeschleuniger für die ohnehin längst vorhandene Proteststimmung innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, auch wenn die späteren Ereignisse in der Ukraine mit dem Dokument wenig zu tun hatten. So fühlen sich die europäischen Strategen verpflichtet, nach den politischen Schritten und schriftlichen Formulierungen zu suchen, die Russland nicht weiter ärgern werden.
Berlin und Paris empfangen die neuesten Versöhnungsbotschaften Putins und erhoffen sich davon eine schnellstmögliche Entspannung. Zum Zweiten bleibt die EU-Zukunftsvision de-facto der letze und wichtigste Faktor, der die ukrainische Gesellschaft zusammenhält. Für die Ukraine ist das Treffen in Riga eine Fortsetzung des EU-Summits vom 27. April, das ergebnislos endete. Die Führung in Kiew benötigte eine Revanche.
Warten auf Willkommenszeichen aus Brüssel
Dieses Streben nach (mindestens) einem unmissverständlichen Willkommenszeichen von der Seite der EU manifestierte sich in mehreren Aussagen des ukrainischen Außenministers Pawlo Klimkin, der Klartext sprach. Sein Land braucht dringend eine europäische Perspektive und wollte endlich „das Licht am Ende des Tunnels“ sehen. Zum Dritten war das Jahr 2014 für die Östliche Partnerschaft ziemlich erfolgreich. Rein rechnerisch unterzeichnete genau die Hälfte der Länder eine Vereinbarung mit Brüssel. Die zweite Hälfte positioniert sich wenigstens nicht EU-feindlich.
Selbst der weißrussische Machthaber Aleksander Lukaschenka pokert außenpolitisch. Die offiziellen Minsker Zeitungen zeigen sich gütig gegenüber Europa und kritisieren die russische Ukraine-Politik. Ungeachtet vieler ernüchternder Meldungen aus Brüssel sind die Hoffnungen der osteuropäischen Nachbarn erweckt, auch wenn sie „falsch“ sein mögen, wie es Angela Merkel zum Ausdruck brachte. Diese Erwartungen gehören trotzdem zur gesamteuropäischen Agenda. Die EU muss sich damit beschäftigen.
Was macht die EU? Wie reagiert man darauf im Osten?
Brüssel hat anscheinend keine Antwort auf die aktuelle Herausforderung. Dem Begriff nach sollte beim aktuellen Treffen gerade die Osterweiterung der Union oder ein dafür geeignetes Ersatzmodell zentral behandelt werden. Stattdessen widmeten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs vielmehr den innergemeinschaftlichen Problemen wie der Schuldenlast Griechenlands und des möglichen EU-Referendums in Großbritannien.
Die Östliche Partnerschaft liegt an der Peripherie der EU-Politik. Die Abschlusserklärung von Riga beinhaltete zur vollen Unzufriedenheit der georgischen, moldawischen und vor allem der ukrainischen Delegationen nur die Standardpassagen über eine mögliche Vertiefung der Zusammenabreit zwischen der Europäischen Union und den Partnerländer im Falle der Steigerung des Reformtempos.
Als Teilerfolg ist eine in Aussicht gestellte Visumfreiheit für Georgien und die Ukraine zu bewerten, die jedoch an viele Voraussetzungen geknüpft wird und damit weite Spielräume für Brüssel sichert. Die Verhandlungsparteien stritten sich lediglich um die Erwähnung der russischen Krim-Annexion im Abschlusstext. So wurde nicht um die Zukunft, sondern um die Vergangenheit gesprochen.
Kein Masterplan für die Nachbarschaft
Die Bevölkerung und die Eliten in der kriegsgeschüttelten Ukraine sowie in den ärmsten Länder Europas, Moldawien und Georgien, können die Mantren der westlichen Politiker über „das Recht jedes europäischen Staates, (irgendwann) der EU beizutreten“ nicht mehr hören. Der russische Politologe Fjodor Lukjanow zieht zu Recht eine Bilanz: „Das Rigaer Summit symbolisiert faktisch das Ende einer Epoche, als die europäische Erweiterung für einen objektiven und unumgänglichen Prozess gehalten wurde.“
Aus den Ländern östlich der polnische Grenze sind ähnliche Stimmen zu hören. Der moldawische Experte George Skarlat resümiert: „Wir sind politisch am Boden, weil jetzt das Hauptprojekt der Republik Moldowa, die europäische Integration, in Frage gestellt wird.“ Sein ukrainischer Kollege Wladimir Fesenko meint, dass die EU „keinen Platz für uns hat“. Sein Landsmann Konstantin Neboshenko bezeichnet das Ergebnis des Gipfels noch schärfer als „ein Desaster“. Der Armenier Grant Schachnasarjan spricht von der einzigen Errungenschaft des Treffens: sein Land konnte noch einmal vom Genozid an den Armeniern 1915 auf der europäischen Bühne reden und findet „kein greifbares Ergebnis“.
Offenbar hat die größte und erfolgreichste Staatengemeinschaft in der menschlichen Geschichte keinen Masterplan für ihre Nachbarschaft. Die Aufgabe ist nicht leicht, wie es in der Demokratie häufig passiert. Ohne die gegenwärtige innereuropäische Agenda als Bagatelle anzusehen, verdient der Modus vivendi im Umgang mit den Ländern, die geographisch und kulturell in Europa liegen, der EU nicht angehören, aber gehören möchten, zu den dringenden Aufgaben der Brüsseler Politik. Die EU spielt jetzt auf Zeit und verschiebt ihre Entscheidung. Die Vogel-Strauß-Politik hat sich allerdings noch nie gelohnt.