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Brexit: Wie verheerend die Lage in Großbritannien wirklich ist

Erst David Cameron, dann Boris Johnson und schließlich Nigel Farage: Nacheinander haben sich die Verantwortlichen für das britische Referendum über einen EU-Austritt aus ihren Ämtern zurückgezogen. Sie hinterlassen ein Land im Chaos, dessen Ausmaß kaum absehbar ist.
von Robert Kiesel · 6. Juli 2016
London nach dem Brexit
London nach dem Brexit

Tourist müsste man sein! Während sich die Katastrophenszenarien nach dem Votum der Briten für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU überschlagen, geht im Herzen Londons - der Stadt, die wie kein anderer Ort Großbritanniens unter einem Brexit leiden dürfte - das bunte Treiben munter weiter. Ob Buckingham Palace oder Trafalgar Square, überall blockieren Reisegruppen Bürgersteige und Tube-Stationen, versperren mit Selfie-Sticks bewaffnete Touristen Wege und Straßen. Pervers oberflächlich wird der touristische Alltag im Regierungsviertel Westminster, wo selbst eine zum Gedenken an die ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox aufgestellte Tafel als Selfie-Kulisse missbraucht wird.

„Brexit war ein Unfall“

Da passt es ins Bild, dass sich Henning Meyer „raped“ (vergewaltigt) fühlt angesichts der Entscheidung, die das Referendum am 23. Juni hervorgebracht hat. Meyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der London School of Economics, beobachtet das politische Geschehen Großbritanniens und der EU als Chefredakteur des Blogs Social Europe intensiv. Seine Einschätzung: „Die derzeitige Situation in Großbritannien entspricht einer vollen Verfassungskrise. Der Ausgang des Referendums war ein Unfall. Aktuell hat niemand einen wirklichen Plan in der Tasche, wie es weitergehen soll.“ Seine Einschätzung, wonach das Land derzeit nicht regierungsfähig sei, wurde durch die Rücktritte der Brexit-Befürworter Boris Johnson und Nigel Farage auf deprimierende Weise bestätigt. Fast schon tragisch, dass sich die Labour-Partei aufgrund der Verwerfungen um den Vorsitzenden Jeremy Corbyn laut Meyer ebenfalls in der „Kernschmelze“ befinde.

Schlimmer noch: Mit seiner pessimistischen Prognose, „es kann nur schlechter werden“, ist Meyer längst nicht allein. Zahlreiche Beobachter sehen sprichwörtlich schwarz für die Zukunft Großbritanniens. Einige halten im Fall des EU-Austritts gar das Ende des Vereinigten Königreichs für gekommen. Insbesondere die Sorgen um den Wirtschaftsstandort scheinen berechtigt. Die Konzentration auf den Dienstleistungssektor droht den Briten schon vor der Umsetzung eines Brexit auf die Füße zu fallen. Große Unternehmen mit zehntausenden Mitarbeitern kündigten bereits Standortverlagerungen an. London dürfte den Titel als europäisches Finanzzentrum verlieren, möglicherweise sogar an Frankfurt am Main.

Unter Folgen des Brexit leiden sozial Schwache

Wer die Leidtragenden dieser Entwicklung sein werden, steht für Meyer fest: „Diejenigen, die ohnehin schon sozial benachteiligt sind und nun für den Brexit gestimmt haben, werden am stärksten unter den Folgen leiden.“ Die entscheidende Frage sei, wie sie darauf reagieren, wenn die Folgen der eigenen Entscheidung – sei es durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder durch die bereits angekündigte Kürzung von Sozialleistungen – klar werden. Im schlimmsten Fall drohe eine weitere Polarisierung und der komplette Vertrauensverlust in die Politik, sind sich Experten sicher.

Keine gute Perspektive, zumal das politische Klima im Land schon jetzt rau ist. Die Zahl der rassistisch motivierten Straftaten steigt rasant, Zeitungen berichten über Klagen von Lehrergewerkschaften, wonach Schüler mit Migrationshintergrund immer häufiger Ängste äußerten, eines Tages aus dem Land „deportiert“ zu werden. In diesem Kontext steht auch der Mord an Jo Cox, den der mutmaßliche Täter mit dem Ruf „Britain First“, dem Namen einer rechtsextremen und antiislamisch ausgerichteten Partei, einleitete.

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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