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Brexit-Debatte: Wie Jeremy Corbyn Labour überflüssig macht

Als Hoffnungsträger der Linken übernahm Jeremy Corbyn, wenn auch nicht unumstritten, im September 2015 den Vorsitz der Labour Party. In der Brexit-Debatte ist er im Begriff, die Partei überflüssig zu machen – und damit auch sich selbst. Analyse eines Enttäuschten
von Nicholas Williams · 2. Februar 2017
Den Nimbus der Lichtgestalt verloren: Labour-Chef Jeremy Corbyn stellt seine Partei vor eine Zerreißprobe.
Den Nimbus der Lichtgestalt verloren: Labour-Chef Jeremy Corbyn stellt seine Partei vor eine Zerreißprobe.

Eine Welle Neueintritte machte Labour zur größten Partei Westeuropas als Jeremy Corbyns Kampagne zur Wahl des Parteivorsitzenden 2015 an Fahrt aufnahm. Allein die Zahl der Neumitglieder überstieg schnell die Gesamtzahl der Konservativen. Corbyns unkonventionelle Art wurde zum populistischen Antipopulismus: respektvoll im Ton, unerbittlich in der Sache.

Labour, eine gespaltene Partei

Zwar machte Corbyn durchaus Werbung für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Doch investierte er nicht ansatzweise die Energie in die Brexit-Abstimmung, mit der er erst seine eigene Wahl und dann ein Jahr später seine Wiederwahl betrieb. Corbyns Enthusiasmus und Optimismus hatten ja viele bewundert und ihn gerade deshalb für den richtigen Mann an der Spitze von Labour gehalten.

Es waren dann, wenn auch nicht ausschließlich, die „üblichen Verdächtigen“, die 2016 an seinem Stuhl sägten, und bei Tony Blair war allzu offensichtlich, weshalb er versuchte, mit Corbyn abzurechnen – forderte Corbyn doch nichts weniger als die juristische Anklage Blairs wegen des Irakkriegs. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ein Parteivorsitzender forderte die gerichtliche Anklage seines Vorvorvorgängers im Amte des Parteivorsitzenden. Blair wiederum forderte, seinen Nachnachnachfolger nicht zu wählen.

Aufgabe als Oppositionsführer verfehlt

Zunächst gewann Labour die meisten Nachwahlen zum Parlament, konnte in den landesweiten Umfragen zu den Konservativen aufschließen. Auch die anschließenden, ersten Enttäuschungen an den Wahlurnen konnte Corbyn verschmerzen. Er war zwar etwas entzaubert, seine Anhänger aber – der Autor eingeschlossen – glaubten immer noch an seinen aufgehenden Stern.

Sicher, da war dieses irritierende Gerede davon, den Willen des „Volkes“ zu akzeptieren. Bis Anfang November sagte Corbyn allerdings, Labour werde einem harten Brexit nicht zustimmen, der Schaden für die britischen Arbeitnehmer sei zu hoch. So rechneten viele damit, er werde einen Grund finden, die Pläne von Premierministerin Theresa May zu durchkreuzen. Angesichts ihrer hauchdünnen Mehrheit im Parlament sollte dies für den Oppositionsführer auch nahezu unwiderstehlich sein: Das britische Parlament ist nicht auf Kooperation, sondern auf Konfrontation ausgerichtet. Eine Niederlage Mays hätte gar Neuwahlen und einen Regierungswechsel bedeuten können.

EU-Bürger in Geiselhaft

Nun, ohne Not, signalisierte Corbyn, einem harten Brexit zuzustimmen, auch wenn er ihn nicht so nennt. Corbyn behauptet, von der Regierung Zugeständnisse zu verlangen, damit Labour bei seiner Unterstützung für den EU-Austritt bleibt. Da er nun angekündigt hat, jedem Ergebnis zuzustimmen, hat Corbyn jedoch keinerlei Machmittel mehr in der Hand.

Die Regierung ihrerseits kämpft mit viel härteren Bandagen und nimmt EU-Bürger auf der Insel in Geiselhaft, um gegenüber der EU Hebelwirkung entfalten zu können. Corbyn hat Labour ohne Not verkauft und zahnlos gemacht. Wieder fegt eine Rücktrittswelle durch sein bereits stark verringertes Schattenkabinett. Die Abgeordneten möchte er, der rekordbrechende Parteirebell, mit äußerster Disziplin auf Linie bringen.

Fotos zerschnittener Mitgliedskarten auf Facebook

Corbyns Unterstützerbasis ist mehrheitlich jung, eher akademisch gebildet und proeuropäisch eingestellt. Das Brexit-Referendum kam überhaupt nur zustande, weil eine in sich gespaltene Tory-Partei sich auf keinen Kurs hatte einigen können: David Cameron pokerte mit der Brexit-Abstimmung hoch, verlor und stahl sich aus der Affäre. Seine Nachfolgerin Theresa May drangsaliert nun EU-Bürger und ignoriert, dass Großbritannien dasjenige europäische Land mit der größten Diaspora-Bevölkerung ist. Und Corbyn unternimmt nichts zu deren Schutz. May interpretiert das Votum von 37 Prozent der Wahlberechtigen zugunsten des Austritts auf die extremst-mögliche Weise.

Noch vor der Abstimmung versprachen viele Brexit-Anhänger, es werde keinen Austritt aus dem Binnenmarkt geben, das könne sich die EU gar nicht leisten. Diese Hybris bleibt ungebrochen, trotz eindeutiger Signale europäischer Partner. May sucht stattdessen den Schulterschluss mit einem populistischen US-Präsidenten. Der vermeintlich linke Oppositionsführer regt kleinere Korrekturen am Brexit-Plan an, ohne irgendeine seiner Einflussmöglichkeiten zu nutzen. Seine einstigen Anhänger posten inzwischen Bilder ihrer zerschnittenen Mitgliedskarten auf Facebook. Corbyn macht Labour überflüssig, und damit sich selbst.

Autor*in
Nicholas Williams

ist Mitglied der Labour-Party sowie der SPD und aktiv im Ortsverein Ludwigsburg (Baden-Württemberg).

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