Die Demokratische Partei des Sozialismus (DPS) bestimmt als Nachfolgepartei des Bunds der Kommunisten Montenegros seit dem zweiten Weltkrieg maßgeblich die Geschicke des Landes. Ihre Vormachtstellung wurde mit den Parlamentswahlen im August 2020 erstmals in Frage gestellt. Eine Koalition aus serbischen Nationalisten (Demokratische Front), moderateren pro-serbischen Kräften (Demokratische Partei) und einer kleinen, pro-europäischen, grün-angehauchten Partei (URA) konnte eine Mehrheit gegen die DPS bilden und die Regierungsgeschäfte übernehmen. Seit einem Jahr hangelt sich diese inkonsistente Koalition von einer Krise zur nächsten. Der einzige Kitt der ungleichen Kräfte ist ihre Gegnerschaft zur DPS und ihrem Vorsitzenden Milo Djukanovic, der als Staatspräsident aber auch weiterhin ein gewichtiger Gegenpol bleibt.
Schon bei den Parlamentswahlen war die Rolle der serbisch-orthodoxen Kirche zentral; Djukanovic' DPS hatte den Versuch unternommen, die Stellung der serbisch-orthodoxen Kirche und ihr Vermögen gesetzlich neu zu regeln, um ihre Macht einzuhegen. Der Widerstand gegen diesen Versuch mobilisierte aber vielmehr seine Gegner*innen und ermöglichte schließlich den Regierungswechsel.
Die Kirche als nationalistische Machtbasis
Die Corona-Pandemie hat Montenegro schwer getroffen. Das hat in dem zum Großteil von Tourismuseinkünften abhängigen Land auch wirtschaftlich besonders schwere Spuren hinterlassen. Nach einem Abflauen der Neuinfektionen in diesem Sommer ist die Sieben-Tage-Inzidenz zum 31. August wieder auf 702 angestiegen. Erst 30 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Eine Corona-Infektion raffte auch den bisherigen Metropoliten Amfilohie am 7. Oktober 2020 dahin. Auf besondere Schutzmaßnahmen gegen das Virus wurde bei der Aufbahrung des Leichnams und seiner Beisetzung offenbar keine Rücksicht genommen, so dass sich Irinej, damals das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche, bei dieser Gelegenheit ebenfalls infizierte und wenig später, am 20. November 2020, verstarb.
Die Auswahl zweier neuer Kirchenführer gab der serbischen Staatsführung von Präsident Aleksandar Vucic die Gelegenheit, Kirchenmänner einzusetzen, die seine Agenda einer „serbischen Welt“ teilen und unterstützen. Der Einfluss des serbischen Staates soll dabei über die Grenzen der Republik Serbien hinaus auf alle von Serben bewohnten Gebiete ausgedehnt werden. Insbesondere betrifft dies die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina und eben Montenegro. Das Konzept der „serbischen Welt“ bedient die Erzählung des serbischen Nationalismus, der in den 1990er Jahren eine der treibenden Kräfte beim blutigen Zerfall Jugoslawiens war.
Serbien und Montenegro: Der Spaltpilz der Unabhängigkeit
Montenegro hatte sich nach einem Referendum erst 2006 von Serbien unabhängig erklärt. Die Zustimmung für die Eigenständigkeit fiel mit 55,5 Prozent aber sehr knapp aus; viele Bürgerinnen und Bürger Montenegros fühlen sich offenbar weniger als Montenegriner denn als Serben. Die Polarisierung zwischen Montenegrinern und Serben entzündet sich dabei immer wieder an der Rolle und Stellung der serbisch-orthodoxen Kirche. Von der Spaltung der Gesellschaft entlang dieser religiösen und nationalistischen Bruchlinie können in erster Linie die pro-serbischen Kräfte in Montenegro profitieren.
Doch auch die bürgerschaftlich-montenegrinischen Kräfte scheinen gegenwärtig mehr an einer Zuspitzung des Konfliktes interessiert zu sein. So muss man der serbisch-orthodoxen Kirche sicherlich zum Vorwurf machen, dass mit der alten montenegrinischen Residenzstadt Cetinje ein symbolträchtiger Ort für die Inthronisierung ausgesucht wurde, der von vielen als Provokation empfunden werden musste. Doch auch die DPS von Staatspräsident Djukanovic hat im Vorfeld wenig zur Beruhigung der Gemüter beigetragen, sondern den Konflikt vielmehr noch angeheizt. Ausgleichende Kräfte: leider Fehlanzeige.
Der an der Regierung beteiligten pro-europäischen Partei URA fiel in der Vergangenheit immer wieder die Aufgabe zu, einen mäßigenden Einfluss auf die radikaleren Elemente in der Regierungskoalition auszuüben. Auch die URA hat dieses Mal nicht zur Verständigung beigetragen, sondern durch Anfeindung der Demonstrant*innen vielmehr die Polarisierung geschürt.
Wieder brennende Barrikaden auf dem Balkan
Der ganz große Knall und der Ausbruch bürgerkriegsähnlicher Zustände blieb am 5. September zwar – entgegen der Befürchtungen vieler Beobachter*innen – aus. Die aktuellen Entwicklungen in Montenegro verdeutlichen jedoch das Gewaltpotential der nationalistischen Konflikte in Südosteuropa. Die Bilder von brennenden Barrikaden, schwer bewaffneten Polizeikräften und wütend aufgebrachten Menschen rufen bei vielen Menschen Erinnerungen an die Gewaltexplosionen auf dem Balkan in den 1990er Jahren wach.
All dies lenkt die Aufmerksamkeit von anderen Schauplätzen der politischen Auseinandersetzung ab. Sowohl Serbien als auch Montenegro befinden sich seit vielen Jahren im EU-Beitrittsverfahren. Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und die Stärkung demokratischer Institutionen sind zentrale Punkte der Auseinandersetzung und eines schleppenden Reformprozesses. Die Inszenierung destruktiver politischer Erzählungen, Nationalismus und Patriotismus fachen die Emotionen in Südosteuropa allerdings deutlich heftiger an als die nüchterne Agenda des EU-Beitrittsprozesses.