Bombenattentat in Ankara: Die Türkei versinkt in Trauer und Wut
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Spätestens seit diesem Sommer möchte in der Türkei kaum noch jemand morgens die Zeitung aufschlagen. Zu deprimierend die Nachrichten über PKK-Terror, staatliche Gewalt, aggressive politische Grabenkämpfe und permanente Verfolgung von Regierungsgegner. Doch was am vergangenen Samstag in Ankara passierte, hat selbst das leidgeprüfte türkische Volk in einen Schockzustand versetzt.
Grausame Szenen nach Attentat in Ankara
Es waren überwiegend linke und regierungskritische Zivilorganisationen, Gewerkschaften und Parteien, die zu einer Friedensdemonstration im Zentrum der Hauptstadt Ankara aufgerufen hatten. Sie forderten ein Ende des Kampfes zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem türkischen Staat, der nach einem über zweijährigen Waffenstillstand im Juli wieder aufgeflammt war. Sie tanzten und sangen, als auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofes zwei Bomben hochgingen – Selbstmordattentäter, wie Premier Ahmet Davutoğlu am Montag bestätigte. „Ich stand etwas entfernt, als die Bomben explodierten“ erzählt Student Kadir Y., der extra für die Kundgebung nach Ankara gereist war. „Als wir flüchteten, lagen überall auf den Straßen Fleischteile – es war grauenhaft“.
Mindestens 97 Menschen starben und Hunderte wurden verletzt, dutzende von ihnen schwer. Die kurdennahe Partei HDP, die die Kundgebung mitorganisiert hatte, spricht gar von 128 Toten.
Haben die Sicherheitskräfte versagt?
Premier Davutoğlu verkündete eine dreitätige Staatstrauer, sein Innenminister Selami Altınok erwog laut TV-Sender CNN Türk seinen Rücktritt. Am Samstag hatte er das noch kategorisch ausgeschlossen und betont, dass es keine Sicherheitslücke gegeben habe. Doch dass sich das Attentat an einem sicher geltenden Platz ereignete, an dem täglich duzende hochrangige Politiker vorbeifahren, lässt viele Türken an der Kompetenz oder dem Willen der Sicherheitskräfte zweifeln.
Die Regierung vermutet den „Islamischen Staat“ hinter den Anschlägen. Das wäre plausibel, schließlich beteiligt sich das türkische Militär seit Ende August an Luftangriffen der USA gegen den IS im Nachbarland Syrien. Doch bekannt hat sich noch niemand zur Tat. Möglich auch, dass sie nie ganz aufgeklärt wird – wie so oft in der Türkei. Das wiederum würde die Verschwörungstheorien nähren und allen politischen Lagern die Möglichkeit bieten, die Tat zu instrumentalisieren.
„Mörder Erdoğan!“ - HDP greift Staatspräsidenten an
Für die kurdennahe HDP scheinen die Schuldigen schon jetzt klar. „Das ist ein Angriff des Staates auf sein Volk“, äußerte sich ihr Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş bereits kurz nach dem Attentat. Er wirft dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan schon seit Wochen vor, zu allen Mitteln zu greifen, um das Wahlergebnis vom 7. Juni rückgängig zu machen. Damals schaffte die HDP zum ersten Mal den Einzug ins Parlament und sorgte dafür, dass die islamisch-konservative AKP nach 13 Jahren an der Macht die Regierungsmehrheit verlor. Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und Opposition scheiterten, das Land erwartet am 1. November Neuwahlen. In Reaktion auf das Attentat kam es in vielen Städten am Wochenende zu spontanen Protestmärsche, „Mörder Erdoğan!“ schrien vielerorts Demonstranten im Chor.
Das ohnehin extrem angespannte politische und gesellschaftliche Klima droht damit weiter zu eskalieren. Schon im Vorfeld war der Wahlkampf von Gewalt überschattet worden. Doch während die Kämpfe bisher vor allem im Südosten des Landes stattfanden und damit für viele Türken leicht zu ignorieren waren, wurde mit Ankara nun das Herz der Republik getroffen.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.