Bolsonaro unter Druck: Wie der Präsident an Brasiliens Demokratie sägt
imago images/Cris Faga
Mit großem Aufwand wurden wochenlang in den sozialen Netzwerken – und vor allem auch von Präsident Jair Bolsonaro selbst – die Demonstrationen zu Brasiliens Unabhängigkeitstag am 7. September vorbereitet. Am Ende kamen nur in São Paulo knapp 125 000 Brasilianer*innen zusammen – viele Menschen, große Bilder, aber eben auch deutlich weniger als erwartet.
Der Versuch, Stärke zu zeigen
Anders als zunächst befürchtet waren die Demonstrationen insgesamt nicht gewalttätig, auch wenn einzelne Journalist*innen massiv bedrängt wurden. Die Forderungen des Protests richteten sich allerdings radikal gegen die Grundfeste der brasilianischen Demokratie. So wurden unter anderem Rufe nach einer Militärintervention laut oder die Auflösung des Obersten Gerichtshofs gefordert. Im Vorfeld hetzten Bolsonaro und seine Anhänger*innen immer wieder gegen das elektronische Wahlsystem, um den Prozess als solchen im Vorfeld der Wahlen 2022 zu delegitimieren.
Durch die Proteste wollte Bolsonaro Stärke zeigen. Tatsächlich war vor allem die Zahl der Protestierer*innen in São Paulo groß, aber in Anbetracht des Mobilisierungsaufwands – und verglichen mit früheren Demonstrationen – war sie keineswegs überwältigend. Die Proteste finden zu einer Zeit statt, in der Bolsonaro im Umfragetief steckt. Eine Mehrheit ist mit seiner Arbeit unzufrieden und lehnt die autokratische Rhetorik des Präsidenten ab. Tatsächlich wirkt das Land nach eineinhalb Jahren Pandemie, mehr als 580 000 Todesopfern durch Covid-19 und einem Präsidenten, der das Land dauerhaft im Krisenmodus hält, erschöpft.
Deutlicher Anstieg der Armut im Land
Zudem sind die letzten Entwicklungen im Land – und die Aussichten für Bolsonaro – eher düster. Neben der traurigen Zahl an Coronatoten und der fortschreitenden Umweltzerstörung liegt die Arbeitslosigkeit weiter bei über 14 Prozent. Bereits jetzt sind die Lebenshaltungskosten sehr stark angestiegen, während die Inflation bei circa neun Prozent steht. Mittlerweile sind 19 Millionen Brasilianer*innen von Hunger betroffen, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu 2018. Verstärkt wird dies derzeit durch die schlimmste Dürre seit über 90 Jahren – in einem Land, in dem über 60 Prozent des Energiekonsums durch Wasserkraft gedeckt wird. Die andauernde Trockenheit könnte einen erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten und das Leben der Bevölkerung durch erhöhte Energiekosten weiter verteuern.
Gleichzeitig legt ein Untersuchungsausschuss pikante Details über die Verfehlungen der Regierung in der Coronakrise offen. Es gibt bereits Ermittlungen gegen Bolsonaro und seine Söhne. Auch für Unternehmen ist Bolsonaro mit seinem neoliberalen Wirtschaftsminister keineswegs die erhoffte Unterstützung. Sein erratisches Agieren kreiert Unsicherheit, die letztlich auch der wirtschaftlichen Entwicklung schadet. Nachdem sich die Wirtschaft zuerst etwas zu erholen schien, lag das Bruttoinlandsprodukt zuletzt im Vergleich zum ersten Jahresdrittel 0,1 Prozent im Minus. Dieses Szenario wird sich vorausichtlich nicht verbessern.
Wahl 2022: Lula als haushoher Favorit
Vor diesem Hintergrund würde Bolsonaro nach jetzigem Stand haushoch gegen den aussichtsreichsten Gegenkandidaten und ehemaligen Präsidenten Lula da Silva verlieren. Zwar ist die nächste Wahl erst im Oktober 2022, aber seine Chancen wiedergewählt zu werden sind mittlwerweile verschwindend gering. Lula veröffentlichte am Tag vor Bolsonaros Auftritt in einem Video seine eigene Ansprache an das Volk. In ruhigem Ton spricht er davon, dass ein besseres Brasilien möglich sei. Ein klarer Gegenentwurf zu Bolsonaro.
In Anbetracht dieser Situation setzt Bolsonaro alles auf Konfrontation, mit einem radikalen Diskurs gegen Brasiliens demokratische Institutionen. Dieser Diskurs war auch am Dienstag omnipräsent, während die aktuellen Herausforderungen für Brasilien unerwähnt blieben. Wie schon zuvor in der Debatte zur Liberalisierung des Waffenbesitzes oder der Bewerbung von Chloroquin gegen Covid-19, wurden einfache (und falsche) Botschaften lanciert und bewusst Feindbilder beschworen. Das traf insbesondere Alexandre de Moraes, einen Richter am Obersten Gerichtshof, den Bolsonaro beschimpfte. Der Höhepunkt: Er werde die Entscheidungen des Obersten Richters zukünftig missachten.
Diese direkten Attacken sind kein Zufall. Alexandre de Moraes wird 2022 den Vorsitz des obersten Wahlgerichts übernehmen, das die Präsidentschaftswahlen überwachen wird. Er ist zudem der Hauptrichter, der Bolsonaro und seine Söhne ins Visier genommen hat, unter anderem bei den Untersuchungen zu Fake-News-Kampagnen.
Angriff auf die Demokratie
Die Angriffe richten sich aber nicht nur gegen eine Person, sondern gegen demokratische Institutionen insgesamt und sind so eine echte Gefahr für die Demokratie. Zumindest bisher konnte Bolsonaro praktisch ohne Konsequenzen agieren. Trotz unverhohlener Drohungen gegen die Demokratie und seines offensichtlichen Versagens, zum Beispiel in der Coronakrise, musste er bisher nie ernsthaft ein Amtsenthebungsverfahren fürchten. Insbesondere in der Abgeordnetenkammer war er bislang durch seinen Pakt mit dem Centrão, einer Gruppe von opportunistischen Parteien, die stark von Bolsonaro profitiert haben, geschützt. Bisher haben vor allem linke Parteien auf ein Amtsenthebungsverfahren gedrängt und debattieren gemeinsame Schritte.
Zumindest verbal kommt nun aber auch Druck von konservativen Parteien, auch jenen, die sich bisher noch mit Kritik zurückhielten. Es liegen bereits knapp 130 Anträge für ein Amtsenthebungsverfahren vor – die meisten von Oppositionsparteien. Bisher wurden diese jedoch nicht diskutiert, denn hierfür muss der Präsident der Abgeordnetenkammer und Führungspolitiker des Centrão, Arthur Lira, einen der Anträge annehmen. Ob dies nun nach den direkten Attacken Bolsonaros geschieht, wird sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Erste Anzeichen sprechen leider eher dafür, dass er weiter geschützt wird.
Droht ein Putsch?
Zwar verurteilte der Oberste Gerichtshof die Angriffe, aber der Generalstaatsanwalt beispielsweise sah in den Protesten den friedlichen Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft, und Lira verzichtete auf direkte Kritik an Bolsonaro. Der stellt sich jedoch schon lange bewusst gegen die demokratischen Spielregeln. Die Auseinandersetzung mit dem Obersten Gerichtshof und seine radikalen Attacken wird Bolsonaro daher weiter fortsetzen. Damit spitzt sich die Krise zwischen dem Gericht und dem Präsidenten weiter zu. Eine Verfassungskrise wird so zu einem wahrscheinlichen Szenario, befeuert durch Bolsonaro und gestützt durch opportunistische Kräfte auch in weiteren demokratischen Institutionen.
Wird Bolsonaro einen Putsch versuchen? Diese Frage wurde auch im Vorfeld des 7. September laut diskutiert. Dabei ist ein wirklicher Militärputsch eher unwahrscheinlich – nie hatte das Militär seit der Demokratisierung mehr Macht als unter Bolsonaro. Entscheidender ist vielmehr die Normalisierung des Chaos, die Unterminierung demokratischer Institutionen und eben die Banalisierung eines Putsches. Anders gesagt, spätestens seit dem Amtsantritt Bolsonaros gibt es eine stetige Erosion der Demokratie, dadurch dass er bewusst die direkte Konfrontation mit den demokratischen Institutionen sucht.
Kontakte zu Trump und zur AfD
Bolsonaro hat inzwischen den Großteil der Bevölkerung gegen sich, eine Wahl wird er so kaum noch gewinnen. Das weiß er auch selbst. Er kommuniziert, wie bereits zu Beginn seiner Amtszeit, direkt mit seinen Anhängern, die seinen Kurs weitgehend unterstützen. Knapp ein Viertel der Bevölkerung bewertet seine Regierung noch immer als gut bis sehr gut. Dabei nennen sie Narrative wie die Wiederherstellung der Demokratie, Freiheit oder die Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung bei gleichzeitiger Forderung nach einer Militärintervention und der Absetzung der Obersten Richter. Diese Umkehrung und Entleerung der demokratischen Begrifflichkeit ist Teil seiner Strategie. Mit der Mobilisierung vom 7. September konnte er tatsächlich auch dieser Bewegung wieder ein Gefühl der Stärke geben: ein Wir-Gefühl gegen die „illegitimen“ Vertreter der staatlichen Institutionen.
Aus dieser Logik heraus war der 7. September ein Erfolg. Dabei ist der „Bolsonarismo“ nicht allein, denn längst gibt es internationale Kontakte – so zur AfD und insbesondere zu Trump. Ein Trump-Vertrauter war auf Einladung eines Sohnes, Eduardo Bolsonaros, zu diesem Anlass im Land. Auffällig waren auch die vielen englischen Plakate in São Paulo und Brasilia.
Längst ist die Verteidigung der Demokratie gegen autokratische Attacken durch Bolsonaro ein Dauerthema, das Kräfte bindet und von tiefen strukturellen Problemen sowie von dem notwendigen akuten Krisenmanagement ablenkt. Befeuert durch die Bewegung des „Bolsonarismo“ und das Ausbleiben von Konsequenzen für ihre höchsten Repräsentanten wächst so die Gefahr einer weiteren Erosion der demokratischen Kultur und einer konstitutionellen Dauerkrise.
Am 9. September erschienen im IPG-Journal.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien. Zuvor war er als Referent im Lateinamerika-Referat der Stiftung tätig.