Bolivien und Corona: Pandemie nach politischer Krise
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Ende 2019 kam es in Bolivien zu heftigen sozialen Protesten. Der Verdacht des Wahlbetrugs trieb tausende Bolivianerinnen und Bolivianer auf die Straßen, um gegen den langjährigen Präsidenten Evo Morales zu demonstrieren. Dies mündete in landesweite Gewaltszenen und letztlich in Morales‘ Flucht ins Exil; die konservative Senatorin Jeanine Áñez wurde zur Übergangspräsidentin. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich ihre Amtszeit, die ursprünglich nur zur Organisation von Neuwahlen vorgesehen war, sicherlich anders vorgestellt. Stattdessen muss sie nun eines der ärmsten und verwundbarsten Länder Lateinamerikas durch die aktuelle Covid-19-Pandemie steuern.
Dies bringt zahlreiche Probleme mit sich: Die Bevölkerung unterstützt zwar weitgehend die strikten Maßnahmen der Regierung, inklusive totaler Quarantäne mit landesweiter Ausgangssperre. Den meisten ist klar, dass die Alternativen angesichts des desolaten Gesundheitssystems des Landes noch unattraktiver sind. Dennoch wäre für die Bekämpfung der aktuellen Krise eine Abstimmung der Übergangsregierung mit den anderen politischen Kräften wichtig. Würden zumindest in einer Ausnahmesituation wie dieser beispiellosen Gesundheitskrise die verschiedenen politischen Kräfte zum Wohle aller an einem Strang ziehen, könnten das Krisenmanagement der Regierung und die Reaktion der Bevölkerung deutlich bessere Ergebnisse erzielen. Anhänger und Gegner der Übergangsregierung aber stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die einen sehen die Entmachtung von Evo Morales als Staatsstreich, für die anderen war sie Ergebnis einer Bürgerbewegung zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung. Angesichts solch verhärteter Fronten ist eine Annäherung selbst in Zeiten einer derartigen Pandemie schwierig.
Verhärtete Fronten – trotz Corona
Die Übergangspräsidentin regiert hauptsächlich per Dekret, während die Parlamentsfraktion der MAS des entmachteten Morales mit ihrer weiterhin bestehenden Zweidrittelmehrheit aufgrund interner Streitigkeiten weitgehend untätig ist. Die Regierung ist wenig transparent in ihrem Umgang mit der Krise. Sie veröffentlicht nur wenige Informationen, etwa hinsichtlich der Beschaffung von Beatmungsmaschinen, Testkits oder Schutzmaterialien. Der plötzliche Rücktritt des Gesundheitsministers „aus persönlichen Gründen“ bleibt unkommentiert, es gibt Abstimmungsprobleme und Kompetenzgerangel mit den Regionalregierungen, und eine offene gesellschaftliche Debatte ist schwierig. Die Regierung nutzt die Sondervollmachten zur Eindämmung der Krise für politische Zwecke: Ein Dekret erklärt „Falschinformationen oder das Erzeugen von Verunsicherung“ zum „Verbrechen gegen die öffentliche Gesundheit“. Das ist zwar prinzipiell sinnvoll, allerdings wird diese Befugnis selektiv zur Verfolgung politischer Gegner eingesetzt. Von der Regierung als „digitale Krieger“ bezeichnete Personen werden verhaftet, aber die Öffentlichkeit erfährt wenig bis nichts über die Hintergründe.
Die ursprünglich für Mai 2020 vorgesehenen Neuwahlen wurden nach dem Ausbruch der Pandemie auf unbestimmte Zeit verschoben. Aus politischen Erwägungen möchten nun einige die Wahlen möglichst schnell abhalten, während anderen ein möglichst später Termin entgegenkommt. Auch hier ist eine Einigung nicht in Sicht. Eins ist jedoch klar: Die Bewältigung der tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise, die nach der Pandemie angegangen werden muss, bedarf einer soliden demokratischen Legitimation der Regierung durch die Stimmen der Bevölkerung.
Neue Wirtschaftskrise am Horizont
Die strikten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben zwar dessen Ausbreitung verlangsamt, allerdings zu hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten. Zusammen mit dem Verfall der internationalen Erdöl- und anderer Rohstoffpreise und der schon vor der Pandemie trüben wirtschaftlichen Situation wird die kommende Wirtschaftskrise das Land vor große Herausforderungen stellen. Die sozialen Konflikte und die Bruchlinien in der Gesellschaft dürften sich noch verstärken, wenn die nächste Regierung über die Verwendung noch weiter verknappter Ressourcen entscheiden muss und verschiedene gesellschaftliche Gruppen dabei Nachteile erleiden. Zudem ist davon auszugehen, dass der Fokus der Politik auf Wachstum um jeden Preis liegen wird und Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit hintenanstehen werden.
Die politische Polarisierung, die gesellschaftlichen Zerwürfnisse und die Wirtschaftskrise bilden gemeinsam ein kompliziertes Szenario für die Phase nach der Pandemie in Bolivien, das die aktuelle und die nächste Regierung vor enorme Herausforderungen stellen wird.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien. Zuvor leitete er das Büro in Bolivien und war als Projektassistent für die Stiftung in Uruguay tätig.