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Belarus: Wie Lukaschenko die Demokratie eingesperrt hat

Alarmierende Rhetorik statt Angebote an die Opposition: Lukaschenkos Auftritt bei der Volksversammlung in Belarus gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Denn die Veranstaltung ist auch in diesem Jahr nur eine Simulation eines Volksparlaments.
von Christopher Forst · 19. Februar 2021
Die Volksversammlung in Belarus: Vor allem eine Bühne des Machthaber Alexander Lukaschenko (mitte).
Die Volksversammlung in Belarus: Vor allem eine Bühne des Machthaber Alexander Lukaschenko (mitte).

Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus sind annähernd 35.000 Menschen verhaftet worden. Es gibt derzeit 246 politische Gefangene im Land. In den nächsten Wochen und Monaten dürfte sich diese Zahl angesichts noch vieler ausstehender Verfahren deutlich erhöhen. Hoffnungen, dass die vor wenigen Tagen in Minsk abgehaltene „Allbelarusische Volksversammlung“ an dieser dramatischen Situation etwas ändern könnte, gab es schon im Vorfeld kaum.

2.400 handverlesene Delegierte

Derartige Versammlungen finden in Belarus seit 1996 etwa alle fünf Jahre statt. Lukaschenko erfand sie einst, um einen Dialog mit „einfachen Menschen“ zu simulieren. De facto wurden im Rahmen der Veranstaltung stets lediglich bereits getroffene Entscheidungen durchgewunken, insbesondere Fünfjahrespläne. Viele Beobachter*innen hatte überrascht, dass die sechste Allbelarusische Volksversammlung nicht schon vor den Präsidentschaftswahlen einberufen worden war. Nun wurde dies nachgeholt. Wohl nicht zuletzt, weil sich Lukaschenko als vermeintlicher Triumphator über eine entkräftete Demokratiebewegung präsentieren wollte – obgleich die Zukunft des Regimes keinesfalls gesichert ist.

2.400 handverlesene Delegierte, die etwa aus lokalen Behörden oder staatlichen Unternehmen kamen, trafen in Minsk zusammen, dazu 300 geladene Gäste. Der Palast der Republik platzte trotz Pandemie aus allen Nähten. Es gab nur wenige Minuten Redezeit für eine kleine Anzahl Delegierter und sehr, sehr viel Redezeit für den aus Sicht des Westens illegitimen Machthaber. Die („konstruktive“) Opposition war durch eine einzige Person, die eher unbedeutende Präsidentschaftskandidatin Hanna Kanapazkaya (als Gast) vertreten. Als sie sprach, wurde die Übertragung unterbrochen.

Kein Vertrauen in Versprechen von Lukaschenko

Dass diese Versammlung eine bereits ausgearbeitete neue Verfassung und vielleicht sogar einen Fahrplan für Neuwahlen auf den Weg bringen könne, wie von Lukaschenko vor einigen Monaten zumindest angedeutet, glaubte von Anfang an fast niemand. Optimistische oppositionelle Stimmen hatten immerhin auf einen ersten Schritt hin zu einer Amnestie für politische Gefangene gehofft. Aber Lukaschenko tat dies ab. Es gebe keine politischen Gefangenen. Und so stand formal zunächst einmal mehr ein neuer Fünfjahresplan im Vordergrund.

Mit einer möglichen Verfassungsreform soll sich nun laut Resolution der Allbelarusischen Volksversammlung eine Kommission beschäftigen, die bis (frühestens) Ende des Jahres detaillierte Vorschläge präsentieren soll. Alle finalen Entscheidungen diesbezüglich werden dem Gusto des Präsidenten entsprechen müssen. Aber vielleicht wird es sie auch nie geben. Lukaschenko hat in den vergangenen Monaten schon viele Versprechen gebrochen. Am Ende soll über die Vorschläge bei einem Referendum, das möglicherweise Anfang 2022 mit Lokalwahlen zusammenfallen könnte, abgestimmt werden. Aber auch eine weitere Hinauszögerung des Prozesses ist denkbar.

Ausgerechnet die Allbelarusische Volksversammlung könnte nach einer Reform Verfassungsrang erhalten. Die Macht des Präsidenten könnte perspektivisch punktuell eingeschränkt werden, er soll aber dennoch weiter als starker Mann im Staate fungieren. Nur vorsichtig soll das System auch eine stärkere Rolle von Parteien ermöglichen. Sollte irgendwann eine neue Verfassung den Weg für Neuwahlen bereiten, versprach der Machthaber erneut, abtreten zu wollen – sofern es einen friedlichen Übergang und Sicherheitsgarantien gebe. Sollte sich die Lage weiter beruhigen, kann man aber keinesfalls ausschließen, dass er es sich vielleicht doch wieder anders überlegt – in typischer Lukaschenko-Manier. Und selbst, wenn er abtreten sollte, könnte er einen Plan B in der Tasche haben und anstreben, künftig als eine Art legitimierter Strippenzieher im Hintergrund zu fungieren.

Viel Show, viel Pathos, ein wenig Russland

Es gibt also viele Optionen, aber die Versammlung hat inhaltlich wenig Konkretes geliefert. Die Rhetorik Lukaschenkos hingegen war einmal mehr alarmierend. Der Machthaber zitierte in seiner Rede Lenin. Er erinnerte sich an gute Gespräche mit Muammar al-Gaddafi und beteuerte, er werde nicht wie Gaddafi oder Saddam Hussein enden. Für ihn hatte die Versammlung wohl eher den Charakter einer „Therapiestunde“. Zumeist sprach er über sich selbst. Er sinnierte abermals darüber, dass er außer Belarus nichts habe.

Mit Blick auf die außenpolitische Orientierung des Landes wurde einerseits von Außenminister Makej betont, dass Belarus mehr als nur einen russischen „Vektor“ brauche. Andererseits wurde vorgeschlagen, die außenpolitische Neutralität aus der Verfassung zu streichen. Schließlich wurde das Mantra wiederholt, man habe in den vergangenen Monaten eine Invasion westlicher Mächte erlebt, einen „Blitzkrieg“. Immer wieder wurde die Bereitschaft zu weiteren Integrationsschritten im Kontext des Unionsstaates mit Russland hervorgehoben; allerdings nur, wenn dies nationalen Interessen nicht zuwiderlaufe. Faktische Schritte auf Russland zu gab es keine.

Dennoch war es wohl kein Zufall, dass die Zeitung Kommersant just zur Volksversammlung von einem eventuellen neuen russischen Kredit über bis zu 3,5 Milliarden US-Dollar berichtete. Wenn es wirklich dazu kommt, wäre das ein deutliches Signal aus Moskau. Und das, obwohl auch Russland eigentlich auf eine zügige Verfassungsreform gedrängt und Lukaschenko Putin eine solche schon im September 2020 zugesichert hatte. Lukaschenko würde dann aber weitere Schritte auf Russland zugehen müssen, was ihm innenpolitisch schaden könnte. Er befindet sich in einer alternativlosen Situation. Sollte Russland ihn fallen lassen, stünde er vor dem Aus. Ende Februar will er sich in Sotschi mit Putin treffen.

Demonstrationen – ein „Blitzkrieg“ des Westens

Den „Blitzkrieg“ glaubt Lukaschenko überstanden zu haben. Gleichwohl sieht er ein „entscheidendes“ Jahr 2021 auf Belarus zukommen. Dazu passt, dass sich die Sicherheitskräfte laut eigener Aussage für einen heißen Frühling gewappnet sehen. Am Rande der Versammlung sickerte durch, dass den inhaftierten Koordinationsratsmitgliedern Maria Kolesnikowa und Maxim Znak infolge neuer Vorwürfe nun bis zu zwölf Jahre Haft drohen. Am 17. Februar steht auch ein Verfahren gegen Viktor Babariko vor dem Obersten Gericht an. Es könnte die Allbelarusische Versammlung schnell vergessen machen. Denn hier wird es um nicht weniger als eine langjährige Haftstrafe für den Mann gehen, der laut einer kürzlich veröffentlichten Chatham-House-Umfrage in der Gunst der Wähler*innen vor Lukaschenko liegt. Aber auch weitere Prozesse bergen eine große Brisanz: der gegen Sergej Tichanowski ebenso wie der bezüglich des Todes von .

Eisige Kälte, harte Repressionen und ein fehlendes Momentum haben die Massenproteste für den Moment gestoppt. Derzeit gibt es nur vereinzelte Protestaktionen. Spätestens am 25. März könnte sich das wieder ändern. Der „Tag der Freiheit“ wird traditionell, auch in normalen Jahren, für Massenproteste genutzt. Die Demokratiebewegung plant, wieder ein neues Momentum zu entfachen. Ihr Ziel bleibt es, durch internen und internationalen Druck doch noch einen echten inklusiven Dialog über eine substanzielle Verfassungsreform und freie und faire Neuwahlen zu erreichen – ohne Lukaschenko. Ob dies gelingen kann, bleibt abzuwarten. Klar ist: Die Bewegung wird nicht einfach verschwinden. Dafür war sie zu lange zu aktiv und laut. Lukaschenko muss weiter um seine Macht zittern. Die Strafmaße für Protestaktionen wurden bereits verschärft. Am Ende kann sich der Präsident nur auf die Gewalt seines größtenteils loyalen Sicherheitsapparates stützen.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Christopher Forst

ist Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung für Belarus und Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ mit Sitz in Kiew.

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