Ausreise aus Afghanistan: Wie ein SPD-Parteibuch zwei Leben rettete
„Als der Flieger von Kabul aus Richtung Taschkent gestartet ist, haben alle an Bord geschrien, gejubelt und geweint“, berichtet Asib Malekzada. Der Deutsch-Afghane lebt seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland. Im Oktober wollen seine Verlobte und er in Kassel heiraten. Doch bislang lebte sie noch in Afghanistan, die Ausreise nach Deutschland war nicht möglich. Als die Taliban im Juli immer mehr Städte eroberten, machte sich der 33-jährige Nordhesse auf den Weg nach Kabul. Dort versuchte er vor Ort eine Lösung zu finden, für seine Verlobte ein Einreisevisum nach Deutschland zu organisieren.
Als wäre der Stecker gezogen
Wenige Tage später spitzte sich die Lage weiter zu. Die Taliban eroberten die afghanische Hauptstadt. Alle Straßen waren wie leer gefegt, kaum jemand traute sich mehr nach draußen, alle Geschäfte, Schulen und Behörden waren geschlossen. „Es war, als wäre einem Land einfach der Stecker gezogen worden“, sagt Malekzada, der sich seit seinem 16. Lebensjahr in der SPD engagiert. Auch dank des Engagements der nordhessischen SPD-Bundes- und Landtagsabgeordneten Timon Gremmels und Oliver Ulloth gelang es vergangene Woche, dass Malekzadas Verlobte ein Einreisevisum nach Deutschland bekam. Die Nachricht darüber erhielten die beiden am späten Dienstagabend.
Am Mittwochmorgen um 6 Uhr brachen sie mit dem Taxi in Richtung Flughafen auf. Seine Verlobte saß auf dem Rücksitz, Malekzada vorne im Wagen, seinen Reisepass und sein Parteibuch immer in der Hand. Letzteres hatte er eigentlich mit nach Afghanistan genommen, um unter Beweis zu stellen, dass er ein engagierter Bürger ist und die anstehende Verbindung mit seiner Verlobten keine Scheinehe. Dann war sein Plan, mit Reisepass und Parteibuch an den US-amerikanischen Posten am Flughafentor vorbeizukommen: „Sie haben den Auftrag, nur Menschen mit ausländischen Pässen reinzulassen. Ich wollte beides vorzeigen, damit sie mitkommen kann.“
Die Taliban ausgetrickst
Letztlich rettete das Parteibuch den beiden das Leben. Denn es ermöglichte ihnen, an den drei Checkpoints der Taliban auf dem Weg zum Flughafen vorbeizukommen. Und das kam folgendermaßen, wie Malekzada im Gespräch mit dem „vorwärts“ berichtet: „Am ersten Checkpoint standen 15 bis 20 schwer bewaffnete Taliban. Sie sind ums Auto herumgegangen und haben reingeschaut. Wir saßen bewegungslos da. Ich habe am ganzen Körper gezittert. Am zweiten Checkpoint war die Situation ähnlich. Sie haben die Türen aufgemacht, ins Auto und in den Kofferraum geschaut. Dann durften wir weiterfahren.“
Am dritten Checkpoint wurde es brenzliger: „Als das Auto angehalten hat, hat ein Taliban meine Tür aufgemacht und lautstark gesagt: Aussteigen! Ich habe aus Reflex das Parteibuch hochgehalten und gesagt: Ich bin ein deutscher Diplomat. Er hat nur einen kurzen Blick darauf geworfen, die Tür zugeknallt und geschrien: Weiterfahren! Ich bin in Tränen ausgebrochen und habe am ganzen Körper so gezittert, dass der Taxifahrer mehrmals gefragt hat, was ich gesagt habe“, sagt der Sozialdemokrat. Der Reflex, das Parteibuch hochzuhalten, habe ihm und seiner Verlobten letztlich das Leben gerettet.
Zu Fuß zum Tor
Nach dem letzten Checkpoint fuhr das Taxi noch fünf Kilometer weiter. Dann mussten die beiden zu Fuß weiter und sich den Weg zum Tor des Flughafens bahnen. „Wir haben fast drei Stunden bis zum Tor gebraucht. Ich habe die Hand meiner Verlobten einfach festgehalten. Die Situation war sehr chaotisch. Es wurde teilweise gezielt auf Menschen geschossen. Wir mussten über tote Menschen laufen, über Kinder, die kollabiert waren und am Boden lagen. Ich weiß nicht, ob sie noch gelebt haben.“
Schließlich erreichten sie das Flughafengelände, wo sie von deutschen Soldaten in Empfang genommen wurden: „Sie waren sehr nett, sehr freundlich, sehr hilfsbereit. Sie haben uns beruhigt und uns ein Getränk gegeben. Wir mussten sechs Stunden auf den Flug warten, aber das war dann ein Luxusproblem.“ Mit einem Militärflugzeug ging es zunächst in die usbekische Hauptstadt Taschkent und von dort aus weiter mit einer Lufthansa-Maschine nach Frankfurt. Um halb fünf Uhr am Donnerstagmorgen erreichten Malekzada und seine Verlobte Hessen.
„Diese Bilder, diese Momente zu verarbeiten, wird uns noch viele, viele Jahre begleiten. Das braucht Zeit. Manchmal wache ich nachts auf und denke daran. Das ist schon sehr belastend“, sagt der 33-Jährige. Seine Verlobte und er freuen sich auf ihre Hochzeit im Oktober in Kassel. Gleichzeitig sind sie in Gedanken auch bei ihrer Familie, die nachwievor in Afghanistan lebt: „Wir sind in ständigem Kontakt und natürlich auch in Sorge, dass die Taliban irgendwann auch die Nachricht erreicht, dass ein Deutsch-Afghane sie ausgetrickst hat.“
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo