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Augenzeuge: Lage in Budapest erinnert an Dritte Welt

Am Budapester Ostbahnhof spielen sich dramatische Szenen ab. Tausende Flüchtlinge kampieren unter freiem Himmel, täglich werden es mehr. Philipp Karl ist vor Ort. Der Politikwissenschaftler spricht von „menschenunwürdigen Bedingungen“.
von Robert Kiesel · 2. September 2015
"Bitte lasst uns gehen"
"Bitte lasst uns gehen"

Herr Karl, seit mehreren Tagen unterstützen Sie die wartenden Menschen in Budapest. Was spielt sich dort ab?

Die Situation ist chaotisch. Zunächst waren es einige Hundert, schließlich rund 2000 Menschen, die auf dem Bahnhofsvorplatz und in dem unterirdischen Komplex kampieren, in Zelten, auf Matratzen, teilweise auf dem nackten Boden. Die Menschen warten, sie wollen weiter, sind schutzlos der Ungewissheit und Willkür ausgesetzt.

Wie ist die Versorgungslage vor Ort?

Es herrschen menschenunwürdige Bedingungen. Es gibt keine festen Unterkünfte, keine zusätzlichen Toiletten oder mobilen Duschen. Die Essenversorgung ist unregelmäßig, medizinische Versorgung findet kaum statt. Beobachter sprechen von Bedingungen wie in der Dritten Welt. Ein aus Kabul geflüchtetes Mädchen sagte mir, in Afghanistan sei es ihr besser ergangen.

Woher kommen die Menschen, wie lange sind sie unterwegs?

Die meisten kommen aus Syrien, viele aus dem Irak und Afghanistan. Auch Menschen aus Pakistan und Bangladesh sind darunter. Die Syrer waren im Schnitt knapp zwei Wochen unterwegs, andere länger.

Nachdem den Flüchtlingen am Montag die Weiterreise nach Österreich und Deutschland gestattet wurde, ist der Bahnhof seit Dienstag wieder dicht. Warum?

Das weiß keiner, es gibt keine erkennbare Strategie. Laut Dublin III müssten die Menschen registriert werden und das Asylverfahren in Ungarn beginnen, de facto sieht das anders aus. Eines muss aber klar sein: Auch wenn der Bahnhof abgesperrt ist bleiben genügend andere Wege. Darunter auch Schleuser. Die Nachricht von den in Österreich gefundenen Leichen hat die Verzweiflung vor Ort aber verschärft.

Wohin wollen die Menschen?

Ganz klar nach Deutschland. Sie erwähnen „Mutter Merkel“ und sprechen explizit davon, nach Deutschland zu wollen. Die Entscheidung der Regierung, Dublin-III für Flüchtlinge aus Syrien de facto auszusetzen, hat dazu beigetragen.

Seit Dienstag ist der Weg jedoch wieder versperrt. Wer kümmert sich um die Menschen in Budapest?

Es sind vorrangig Freiwillige. Die Bereitschaft zu helfen ist sehr groß. Soweit ich weiß hat die Stadt einzig Absperrbänder zur Markierung der Transitbereiche und Wasser zum Waschen zur Verfügung gestellt. Ansonsten halten sich die Behörden zurück. Die Menschen berichten stattdessen von Schlägen ungarischer Polizisten nahe der Grenze.

Wie geht es weiter?

Auch das weiß niemand. Die Einstellung der Kontrollen am Montag hat natürlich noch mehr Menschen angelockt. Die sind jetzt hier und gehen auch nicht wieder weg. Ich hoffe, dass es bald eine vernünftige Lösung gibt. Ich glaube daran.

 

Philipp Karl ist Politikwissenschaftler und promoviert zum Thema „Rechtsradikalismus in Ungarn“. Seit drei Jahren ist er regelmäßig in Budapest, aktuell für drei Monate am Stück. Karl ist 2005 wegen ihrer Haltung zum Irak-Krieg in die SPD eingetreten.

 

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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