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Der Irak gehört zu gefährdetsten Staaten der Welt, weil mit dem Sturz Saddam Husseins ein Machtvakuum entstanden und das fragile Machtgleichgewicht zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden zerstört worden war. "Im Gegensatz zur soliden Vorbereitung des Militärschlags waren die Vorkehrungen für die Zeit nach dem Sieg faktisch nicht über das beschriebene Szenario einer Machtübergabe an pro-ameri­kanische, einheimische Politiker hinausge­gangen," sagt Henner Fürtig, Direktor des GIGA Nahost-Instituts in Hamburg.

Etwa 97 Prozent der irakischen Bevölkerung sind muslimisch, über 65 Prozent Schiiten, etwa 30 Prozent Sunniten. Unter Saddam Hussein dominierten die Sunniten die Politik, nach seinem Sturz fürchteten sie ins Abseits zu geraten. Zudem machen Kurden etwa 15-20 Prozent der Bevölkerung aus, zwar sind sie überwiegend sunnitisch, wünschen sich allerdings vor allem einen eigenen kurdischen Staat.

Machtkampf zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden
Mit Saddam Husseins Sturz entbrannte der Streit zwischen den verschiedenen Gruppen um die Macht - und mit den Besatzungstruppen. Dabei ging es immer seltener um Programme und Ideen, friedliche Verhandlungen blieben aus. Die US-Zivilbehörde hatte die erste irakische Übergangsregierung nach einem ethnisch-konfessionellen Proporz besetzt - und damit die Büchse der Pandora geöffnet.

"Ethnische und religiöse Faktoren bestimmten das politische und gesellschaftliche Leben. Das führte zwangsläufig zu einer enormen Verschärfung der politischen Situation, denn Attacken und Widerspruch gegen eigene Standpunkte wurden als grundsätzliche Angriffe auf den jeweiligen Glauben interpretiert," sagt Henner Fürtig. Die Gewalt zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen nahm zu, religiöse Orte und Feste wurden Ziele von Anschlägen. Am 22. Februar 2006 wurde die den Schiiten heilige Moschee von Samarra zerstört - der Höhepunkt der Gewalt.

Zusätzlich entdeckte die Terrororganisation al-Quaeda den Irak für ihren Kampf und suchte Gewalt und Instabilität zu schüren. Sie verbündete sich mit den Sunniten, unternahm Angriffe auf die Koalitionstruppen und gegen die schiitische Bevölkerung. Zwischen 2003 und 2006 stand der Irak an der Klippe zum gescheiterten Staat.

Abzug der amerikanischen Truppen und Wahlen
Doch obwohl das Land noch immer eines der zehn gefährdetsten Länder weltweit ist, hat sich die Lage verbessert. Die Koalition aus Stammesführern, al-Quaeda und Sunniten ist zerbrochen, Terrorchef Abu Musab al-Zarqawi tot. Im Jahr 2007 begannen die USA einen letzten Kraftakt und gingen mit aller Härte gegen die Extremisten vor. Gleichzeitig wurde die politische Macht den Irakern zurückgegeben und der Abzug der amerikanischen Truppen bis Ende 2010 durchgeführt. Die Iraker selber begannen Brücken zu bauen, eine neue Verfassung zu verabschieden und Wahlen durchzuführen. Im vergangenen Jahr bestätigten sie Premier al-Maliki im Amt. "Bei den Wahlen gewannen diejenigen Politiker und Wahlallianzen die meisten Stimmen, die einen starken Zentralstaat verkörperten," sagt Henner Fürtig, "demgegenüber verloren die Parteien, die mit einer ethnisch beziehungsweise konfessionell definierten Agenda antraten." Im Vordergrund standen für die Iraker Stabilität, Sicherheit und die Nation.

Die Kurdische Al­lianz gewann zwar weiterhin die kurdischen Stimmen, die Partei "Irakische Allianz" fast alle sunnitischen Stimmen. Doch die schiitische Bevölkerungsmehr­heit teilte ihre Wahlkreuze zwi­schen al-Mailikis "Rechtsstaatskoalition" und "Irakischer Nationalallianz" auf. Dadurch entstand im März 2010 eine Pattsituation, die zu den längsten Regierungsgesprächen der Geschichte des Landes führte - und immer wieder von Syrien und Saudi-Arabien, dem Iran und der Türkei von außen zu beeinflussen versucht wurde.

Gewalt und Korruption
Mit wenig Erfolg. Seit Dezember steht die Regierung, umfasst 42 Minister aus "Rechtsstaatskoalition" und der "Irakischen Allianz" und wird wieder von al-Maliki angeführt. Allerdings ist sie ebenso zerbrechlich wie die gesamte Sicherheitslage im Irak. Polizei und Armee sind gegenüber den zahlreichen Anschlägen aber auch dem Widerstand in bestimmten Landesteilen machtlos. Seit 2003 wurden mehr als 300 Journalisten und mehr als 200 Universitätsprofessoren entführt oder ermordet. Gerade gut ausgebildete Iraker habendas Zweistromland verlassen. Von den insgesamt 31 Millionen Irakern leben etwa zwei Millionen im Ausland, weitere zwei bis drei Millionen Iraker sind Binnenflüchtlinge.

Zudem grassiert die Korruption. Unternehmen geben an, etwa 10 Prozent ihres Handels für die Bestechung von Politikern aufbringen zu müssen. Das Land liegt am Tropf seiner reichen Ölvorräte, die etwa 90 Prozent der Einnahmen der irakischen Regierung ausmachen. Doch um das Öl in den kurdischen Gebieten entzündet sich häufig Streit. Die lokale Bevölkerung ist nur mit etwa 17 Prozent beteiligt und möchte mehr. Immer wieder wird befürchtet, dass es zwischen Kurden und Zentralregierung zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Gleichzeitig gelingt es der Regierung in Bagdad nicht, ein ordentliches Gesundheitssystem aufzubauen und beispielsweise alle Menschen mit sauberem Wasser zu versorgen.

Das Verteidigungs- und Innenministerium werden weiterhin von Premierminister al-Mailiki geführt, weil die Einberufung eines sunnitischen, kurdischen oder schiitischen Ministers das Gleichgewicht stören könnte. "Da im­mer noch eine überwiegende Zahl von Ar­beitsplätzen direkt oder indirekt vom Staat abhängt, verheißt nur die Kontrolle der Staatsmacht die Generierung von Loyalität in Politik, Wirtschaft und Sicherheit," sagt Henner Fürtig, "die tie­fen Trennlinien in der irakischen Gesellschaft bestehen weiter, ein Wiederaufflammen flä­chendeckender Gewalt ist keinesfalls auszu­schließen."

vorwärts.de wird sich in einer Serie den "Failed States" annehmen und schauen, was Deutschland tun kann und sollte. Mehr Informationen unter www.fundforpeace.org

Autor*in
Jérôme Cholet

arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Afrika, Lateinamerika und Naher Osten.

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