Auf der Flucht vor dem IS-Terror
Man kann sie schon von weitem riechen. Müll, faulendes Gemüse, dunkel schillerndes Wasser aus einem geplatzten Kanalrohr, alles überlagert vom Geruch nicht entsorgter Fäkalien, die bei 40 Grad Hitze vor sich hin schmoren. Der Gestank reicht weit in diese Seitenstraße von Ankawa, dem christlichen Viertel der kurdischen Stadt Erbil. Je näher man kommt, desto ekliger wird er. Dann steht man am Ursprung dieser Ausdünstung: die abschüssige Einfahrt zur Tiefgarage einer halbfertigen Shopping Mall.
Unten im Halbdunkel leben sie, irakische Christen, die sich vor der Terrororganisation IS retten konnten. Kleine Kinder kicken Bälle auf dem nackten Zementboden. Sie kreischen, freuen sich. Zwischen Betonpfeilern ist Wäsche aufgehängt. Oben steht die Luft bei 40 Grad, unten staut sie sich und heizt sich so noch einmal auf. Graue Plastikplanen mit der Aufschrift UNHCR trennen Parkbuchten und machen aus Stellflächen Wohnraum.
Vor drei Monaten hatte der Sturm des „Islamischen Staates“ auf den Norden des Irak begonnen, vor sechs Wochen die Angriffe auf die christlichen und yezidischen Dörfer im Westen des Irak. Rund 800 000 Menschen mussten fliehen, darunter 125 000 Christen. Hals über Kopf, verfolgt von den blutdürstigen Terroristen des IS genauso wie dieser Tage an der türkisch-syrischen Grenze. Mehr als 1000 leben allein auf zwei Stockwerken dieses Tiefgaragen-Rohbaus, versorgt von der nahen chaldäischen St. Joseph-Gemeinde, die auf ihrem Kirchengelände noch einmal so viele Flüchtlinge beherbergt. In Zelten, im Freien schlafend, mit Kochstellen, auch Duschen und Toiletten. Vieles improvisiert, von vielem viel zu wenig, auch wenn die Kirchenoberen und die Gemeinde sich aufopfern für diese Flüchtlinge.
Menschen sollen zerstört werden
Die meisten sind immer noch traumatisiert: „Das war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe“, erzählt uns eine Frau, die froh ist, ihr Leben und das ihrer Kinder in diesen stickigen Keller gerettet zu haben. „Selbst unsere muslimischen Nachbarn haben IS unterstützt und unsere Wohnung geplündert. Mit denen hatten wir immer friedlich zusammengelebt.“ Eine andere hatte es nicht rechtzeitig geschafft und war mit ihren Kindern und ihrem Mann zwölf Tage in der Gewalt der IS-Terroristen. „Jeden Tag kam einer dieser schwarz Gekleideten mit einem langen Messer und bedrohte uns. Wir sollten zum Islam übertreten. Wir weigerten uns. Dann kam er wieder und hielt sein Messer an meine Kehle. ‚Du weißt, wir sind Killer‘, grinste er. Ich dachte, jetzt ist es soweit.“ Er habe gedroht, ihre achtjährige Tochter mitzunehmen: „‚Ich werde eine gute Muslimin aus ihr machen‘, sagte er. Wir rechneten jeden Tag mit unserem Tod.“ In der zwölften Nacht konnten sie wie durch ein Wunder fliehen. Jetzt will ihnen die Chaldäer-Gemeinde von Erbil eine feste Unterkunft besorgen.
„Scham, Schande, Demütigung, das sind die Ziele dieses Terrors“, erzählt der Berliner Psychotherapeut Salah Ahmad bei seinem Besuch in der Joseph-Gemeinde in Erbil: „Vergewaltigung und Morde sind fester Bestandteil dieses Horrorprogramms. Die Menschen sollen zerstört werden, um sie gefügig zu machen.“ Da der Terror des IS zwar eine bisher selbst hier noch nicht gekannte Grausamkeit erreicht hat, Folter und Gewalt aber schon lange zum bitteren Alltag der Menschen auch in dieser Region des Nahen Ostens gehören, hatte er schon vor 20 Jahren begonnen, Therapiezentren in Kurdistan aufzubauen. „Diese Menschen, ob das Christen sind oder Yeziden oder Sunniten, sie können als Menschen nur überleben, wenn wir ihnen helfen“, appelliert er.
Das gilt für alle 800.000 vom IS Vertriebenen. Die meisten Iraker im Keller der Mall hoffen auf den Westen. Die kurdische Regierung ist jedenfalls kaum in der Lage, diesen Ansturm allein zu bewältigen. Bagdad hat sich bisher nicht gerührt. Bald aber kommt der Winter, und der kann bitterkalt sein in Kurdistan.