Argentinien gegen Corona: Virus trifft auf Rezession
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Am 3. März gab es in Argentinien den ersten mit dem Coronavirus infizierten Bürger. Zwei Wochen später ist die Zahl auf 56 gestiegen, mittlerweile verzeichnet das Land zwei Todesfälle. Soweit bekannt, hatten sich diese ersten Fälle in Europa infiziert.
Nachdem staatliche Maßnahmen und auch die Berichterstattung in den ersten Tagen zurückhaltend waren, überschlugen sich die Maßnahmen bald. Die Regierung um den pragmatisch progressiven Peronisten Alberto Fernández ist erst seit dreieinhalb Monaten im Amt. In dieser Situation bislang unbekannter Herausforderungen reagiert sie rasch, pragmatisch und weitsichtig. In Botschaften an die Nation und öffentlichen Auftritten – sogar gemeinsam mit dem oppositionellen Bürgermeister von Buenos Aires, wahrlich ein Novum in diesem politisch extrem polarisierten Land – erläutert der Präsident die restriktiven Maßnahmen. Auch in Argentinien geht es zuallererst darum, den Ausbruch zu verzögern und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Transparenz, wissenschaftsbasierte Informationen, gemeinsames Handeln und Durchgreifen scheinen hier die Leitlinien.
Epidemie trifft auf Rezession
Eigentlich hat die Regierung anderes zu tun. Das Land ist pleite und in Rezession, die Inflation lag 2019 bei 53,8 Prozent, die Schulden sind schwindelerregend hoch (die öffentliche Verschuldung beträgt 86,3 Prozent im Verhältnis zum BIP), 40 Prozent der Bevölkerung sind von Armut betroffen. Die Verhandlungen mit dem IWF und privaten Gläubigern für eine Umstrukturierung der Schulden sowie Sozialmaßnahmen für die Ärmsten der Bevölkerung und der Versuch der Wiederbelebung der heimischen Wirtschaft standen eigentlich auf der Agenda der neuen Regierung. Nun muss die Regierung eine Balance zwischen radikalen, weitsichtigen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus einerseits und der kritischen Wirtschaftslage andererseits finden.
Nachdem recht schnell ein Einreiseverbot für Flüge aus den am stärksten betroffenen Gebieten wie EU, USA, China, Südkorea, Iran und Japan samt 14-tägigem Quarantänegebot für Einreisende verkündet wurde, sind die Grenzen seit dem 15.3.2020 für alle Ausländerinnen und Ausländer ohne permanente Aufenthaltserlaubnis geschlossen. Wer die Quarantäne nicht einhält, wird nach Hause geschickt; es gab bereits über 270 Deportierte. Für die Einheimischen droht Gefängnis bei Nichtbeachtung der Quarantäne. Seit dem 16.3. sind Primär- und Sekundarschulen geschlossen. Bürgerinnen und Bürger über 65 sind angehalten, zu Hause zu bleiben. Öffentliche Veranstaltungen und Sportaktivitäten sind abgesagt, Nationalparks und Spielplätze geschlossen. Personen über 60 und Schwangere sind von der Arbeit befreit. Für den Personennahverkehr der 15-Millionen-Stadt Buenos Aires wird noch eine Lösung gesucht. Um die Wirtschaft nicht noch mehr einbrechen zu lassen, wurde zunächst keine allgemeine Ausgangssperre verhängt. Seit dem 20. März ist das anders: Jetzt gilt bis zunächst 31. März eine allgemeine Ausgangssperre.
Verständnis für radikale Maßnahmen
Die Argentinier und Argentinierinnen reagieren verständnisvoll. Dass das öffentliche Gesundheitssystem mit einem blitzartigen Anstieg von Corona-Infizierten überfordert wäre und damit viele Menschenleben, vor allem die Ärmsten, gefährdet sind, ist den meisten klar. Dennoch: Argentinien gehört zu den Ländern mit der höchsten Ärztedichte weltweit, auch gibt es im lateinamerikanischen Vergleich viele Krankenhausbetten. Die Nachrichten aus Europa, vor allem aus Italien und Spanien, wo viele Argentinier Verwandte haben, sorgen für Verständnis für die radikalen Maßnahmen. Die argentinische Gesellschaft ist krisengestählt. Sie ist daher flexibel und relativ gelassen. Für Argentinien wiegt alllerdings die Gefahr des Coronavirus gleich doppelt schwer: eine Überlastung des Gesundheitssystems und eine weitere Last für die am Boden liegende Wirtschaft. Möglicherweise aber sorgt der Virus für einen stärkeren kollektiven Zusammenhalt der Bevölkerung. Erste Anzeichen dafür sind sichtbar.
Dieser Artikel erschien zu Beginn der Woche im IPG-Journal. Inzwischen hat das Land eine Ausgangssperre verhängt (Stand: 20. März)
ist Leiterin des FES-Büros in Argentinien. Von 2014 bis 2019 war sie Leiterin des Referats Lateinamerika/Karibik der FES in Berlin.