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Antiradikalisierungs-Initiative in Brüssel: Netz gegen Netzwerk

Nach den Anschlägen in Brüssel steht der Stadtteil Molenbeek mal wieder im Fokus. Hier leben viele IS-Anhänger, hier wurden verschiedene Anschläge vorbereitet. Während die EU-Mitgliedstaaten sich im Anti-Terrorkampf mühen, geht der sozialdemokratische Bürgermeister Hans Bonte in Belgien eigene Wege.
von Peter Riesbeck · 3. Dezember 2015

Brüssel. Plötzlich ging es sehr schnell. „Nora war ein gewöhnliches junges Mädchen, sie interessierte sich für Mode und war verrückt nach ihren Freundinnen“, so schildert es Samirai Laakel. Doch eines Tages im Mai vor zwei Jahren ist ihr Sohn gekommen und teilte ihr mit: „Nora ist weg.“ Weg in den Kampf für den Islamischen Staat nach Syrien.

Von Blitz-Radikalisierung sprechen Experten, häufig über das Internet, und von einer Isolierung von alten Freunden. „Es geht häufig um junge Menschen, die sich unwohl fühlen“, erklärt der belgische Experte Johan Leman vom Regionalen Integrationszentrum Foyer in Molenbeek. Das Viertel in der belgischen Hauptstadt Brüssel ist nach den Anschlägen von Paris ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Mindestens drei der mutmaßlichen Attentäter stammen von dort. Experten wie Stijn Aerts vom Niederländisch-Flämischen Institut in Kairo erklären zum Prozess der Radikalisierung: „Sozial-ökonomische Faktoren wie Diskriminierung, fehlende Perspektiven in Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt, Chancenarmut spielen häufig eine entscheidende Rolle.“

Kampf gegen die Isolation

Hans Bonte weiß all das. Der Mann hat Soziologie studiert und ist Bürgermeister des Brüsseler Vorortes Vilvoorde. Als solcher mochte der Sozialdemokrat nicht länger zusehen. Die Radikalisierung sei ein Prozess der gezielten Isolierung, sagt er. Und: „Es geht immer um ‚Wir gegen sie‘. Erst heißt es: ‚Du bist kein richtiger Muslim.’ Dann: ‚Einer unreinen Frau darfst du nicht die Hand geben.‘ Und schließlich: ‚Wer wirklich glaubt, der zieht für Allah in den Krieg.‘“ Vor gut zwei Jahren haben sich die ersten muslimischen Jugendlichen aus Vilvoorde nach Syrien abgesetzt: „Da wussten wir, wir müssen handeln.“

Bonte hat in Vilvoorde ein Antiradikalisierungsteam installiert, fünf Mitarbeiter, die den Blick der Verwaltung schärfen, vom Jugendamt, über die Schulstellen bis hin zum Sozialamt. „Es ist ein Kampf gegen die Isolation“, erklärt Bonte. Also wird geredet, mit Schulen, Sportvereinen, Jugendklubs und Moscheegemeinden, um gefährdete Jugendliche einzubinden. Der Zug nach Syrien ist gestoppt. Vorerst.

Die alten Aufstiegsideen funktionieren nicht mehr

Warum verlieren Jugendliche den Halt? Der Politiker Bonte argumentiert als Soziologe und sagt: „Der Druck auf junge Menschen nimmt zu – von Seiten der Gesellschaft, von der Familie und auch von den Jugendlichen selbst.“ Man will mithalten können in der sich rasch verändernden Welt. Bonte spricht von der Tendenz zur Individualisierung und „einer gesteigerten Erwartung an Zusammenleben und Realität“. Im Klartext: Wollen und Können fallen auseinander. „Das führt zu Frustration.“

Die Globalisierung hat mächtige Kräfte entfesselt, die längst nicht nur auf dem Weltmarkt wirken, sondern das Leben jedes Menschen kräftig durchrütteln können. In einer technisierten Arbeitswelt verliert man leicht den Anschluss. Und besonders ganz unten, bei den einfachen Jobs als Paketbote oder im Sicherheitsdienst, funktionieren die alten Aufstiegsideen nicht mehr.

Aufbau eines europäischen Geheimdienst

Darüber haben die EU-Innenminister bei ihrem Sondertreffen nach den Anschlägen von Paris nicht geredet. Stattdessen ging es um Anti-Terrorkampf und strengere Sicherheitsmaßregeln. An Europas Außengrenzen werden auch für EU-Bürger wieder systematische Passkontrollen eingeführt. Die EU-Staaten dringen zudem darauf, Fluggastdaten von Flügen in der EU zu erfassen (Experten sprechen von PNR, Passenger Name Record). Ein entsprechendes Abkommen für Transatlantikflüge existiert mit den USA, scheitert aber innerhalb der EU am Europaparlament. Aus Datenschutzgründen. „Wir dürfen dem Terrorismus nicht nachgeben, indem wir unsere demokratischen Freiheiten aufgeben“, hat die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel nach den Pariser Anschlägen im Europäischen Parlament gewarnt.

EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos hat sich für den Aufbau eines europäischen Geheimdienstes ausgesprochen. Schließlich ist die Liste des Versagens der EU-Staaten im Anti-Terrorkampf lang. So ist der Franzose Mehdi Nemmouche, der im Vorjahr vier Menschen bei einem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel getötet hat, aus Syrien über den Flughafen Frankfurt/Main in die EU eingereist. Die deutschen Behörden haben den Hinweis nach Frankreich weitergegeben. Aber nichts ist passiert.

De Maizière hat die Forderung nach einem europäischen Geheimdienst zurückgewiesen – die liebe nationale Souveränität. Mitunter ist aber nicht weniger, sondern mehr Europa die Lösung. Auch im Kampf gegen den Terror.

Autor*in
Peter Riesbeck

ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.

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