Anschläge in Paris: „Europa muss mobil machen gegen den Terrorismus“
Die Syrienkrise stellt Europa vor völlig neue geostrategische Herausforderungen. Es ist nicht daran zu rütteln, dass ein Krieg an den Grenzen Europas zwangsläufig Auswirkungen auf die Demokratien Europas hat. Vor wenigen Wochen wurde Frankreich zum Opfer schrecklicher Anschläge, die im Namen von Daesch* verübt wurden. Diese Gräueltaten galten einer Lebensweise, einer Zivilisation, die im Sport, der Kultur, dem Miteinander ihren Ausdruck findet, und unter den Opfern sind viele junge Menschen, die unsere offene und vielfältige Gesellschaft repräsentieren. Frankreich war nicht die alleinige Zielscheibe, alle Demokratien wurden angegriffen. Ich denke dabei an das tunesische Volk, das auch viele Opfer zu beklagen hat. Wir sind alle betroffen.
Ein Zeichen für die nationale Einheit
Frankreich und seine Bürger wurden bereits vergangenen Januar von den Attentaten gegen „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt im Innersten getroffen: Damals zeigte sich die europäische und internationale Solidarität in einer riesigen Kundgebung. Heute brauchen wir diese Solidarität nötiger denn je, Europa muss mobil machen gegen den Terrorismus und Daesch.
Unser Staatspräsident François Hollande hat nach den Attentaten im November unverzüglich reagiert, mit der Versammlung des Parlaments in Versailles setzte er ein Zeichen für die Nationale Einheit, in einer offiziellen Trauerfeier wurde der Opfer gedacht. Zur Bekämpfung des dschihadistischen Terrorismus mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wurde für drei Monate der Ausnahmezustand beschlossen. Er kündigte außerdem zusätzliche Ressourcen für Polizei und Justiz an. Wir wissen jedoch, dass eine europäische und internationale Koordination erforderlich ist.
„Hot Spots“ möglichst schnell einrichten
Die Antwort Europas strukturiert sich. Die Innen- und Justizminister trafen sich sehr rasch zu einer Krisensitzung und beschlossen die Einrichtung des Passagierdaten-Registers, das bislang vom Parlament blockiert wurde. Dieser Schritt ist unumgänglich. Sie verständigten sich auch auf eine verstärkte Zusammenarbeit der Geheimdienste und eine verschärfte Bekämpfung des illegalen Waffenhandels. Gemeinsam müssen wir auch daran arbeiten, unsere Außengrenzen zu stärken, insbesondere müssen die in Italien und Griechenland geplanten „Hot Spots“ möglichst schnell eingerichtet werden.
Nur unter dieser Bedingung kann das Schengen-System und die damit verbundene Freizügigkeit als wesentliche Errungenschaft der Europäischen Konstruktion beibehalten werden. Nach den Pariser Anschlägen wurde zum ersten Mal die im Lissabonner Vertrag enthaltene gemeinsame Verteidigungsklausel in Anspruch genommen. Es geht darum, gemeinsam mit unseren Partnern kollektiv und konkret Daesch und den Terrorismus zu bekämpfen. Deutschland ist sich dieser Tatsache bewusst. Genau wie Frankreich und Deutschland in der Ukrainekrise mit Entschlossenheit gehandelt haben, muss Europa auch jetzt entschieden auftreten. Wir müssen unsere gemeinsame Verteidigungspolitik konsolidieren und einen handlungsfähigen europäischen diplomatischen Dienst unterstützen.
Längerfristig angelegte Antwort
Der Kampf gegen Daesch in Syrien und Irak erfordert ebenso eine breite internationale Koalition. Frankreich beteiligt sich seit 2014 an den Luftangriffen im Irak und fliegt seit September auch Angriffe gegen syrische Ziele. Die Anzahl der Luftangriffe wurde erhöht und der Staatspräsident bemüht sich darum, die Voraussetzungen für eine möglichst enge Koordination zu schaffen, denn Daesch ist ab sofort die Hauptbedrohung, die prioritär neutralisiert werden muss. Im Rahmen der Wiener Konferenz bemühen wir uns gemeinsamen mit allen Partnern um eine politische Lösung in Syrien, die jedoch nicht in Baschar al-Assad bestehen kann.
Eine andere, längerfristig angelegte Antwort ist in der Prävention zu sehen. Wir müssen uns die Frage stellen, was junge Menschen in Frankreich, Belgien, Deutschland und anderswo in die Radikalisierung treibt. Und wir müssen auch darüber nachdenken, was unsere Gesellschaften eint. Die Terroristen wollen Angst verbreiten, um uns zu spalten. Wir dürfen uns nicht abkapseln oder uns den anderen gegenüber verschließen. Vergessen wir nicht, dass die Menschen in den von Daesch kontrollierten Regionen im Irak und Syrien die unmittelbaren Opfer des Terrors sind. Die Flüchtlingsfrage ist ursächlich mit dem Krieg in Syrien und im Irak verbunden. François Hollande erinnerte in seiner Rede vor dem Kongress daran: „Es ist wesentlich, dass Europa diejenigen in Würde aufnimmt, die ein Recht auf Asyl haben.“
Sicherheit und Freiheit miteinander vereinbaren
Die europäischen Länder müssen hier solidarisch und verantwortlich agieren. Jeden Tag kommen Tausende Asylsuchende nach Deutschland. Frankreich muss und wird verantwortlich handeln und 30 000 zusätzliche Flüchtlinge aufnehmen. Europa muss auch die Nachbarländer Syriens und des Irak unterstützen, die mehrere Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben, und die Gespräche zwischen der EU und der Türkei sind in diesem Zusammenhang äußerst wichtig.
Der Kampf gegen Daesch muss politisch und militärisch zu Ende geführt werden. Wir werden in diesem Kampf darauf achten, unsere Rechtsstaatlichkeit zu wahren, Sicherheit und Freiheit miteinander zu vereinbaren und die fundamentalen Werte unseres Europas zu bekräftigen. So können wir in unseren offenen Gesellschaften handeln, um soziale Exklusion abzubauen, Arbeitslosigkeit einzudämmen und das Versprechen der Republik einzulösen, das in der Devise Frankreichs seinen Ausdruck findet: „Liberté, Egalité, Fraternité“. Darin liegt unsere Verantwortung, die Verantwortung des Sozialismus und der Sozialdemokratie.
*Die Abkürzung „Daesch“ (gesprochen Da-esch) aus den Anfangsbuchstaben der arabischen Selbstbezeichnung des „Islamischen Staates“ weist dessen Anspruch zurück, ein Staat und ein islamisches Kalifat rechtgläubiger Muslime zu sein. Sie ähnelt den arabischen Begriffen für „Zwietracht säen“ und „zertreten“. Der IS versteht diese Bezeichnung als beleidigend. Frankreich verwendet diesen Begriff seit 2014. Auch andere westliche Länder übernehmen den Terminus zunehmend.
war von 2012 bis 2014 französischer Premierminister. Von 1997 bis 2012 war er Fraktionsvorsitzender der Sozialistischen Partei in der französischen Nationalversammlung. Er ist ein Kenner Deutschlands.