Russland hat an der Grenze Truppen zusammengezogen, knapp 300 000 Ukrainer sind auf der Flucht. Eine Studie hat unter anderem untersucht, wer alles auf Seiten der Separatisten kämpft.
Große Teile des Ostens der Ukraine werden durch die schweren Gefechte zwischen der Armee und den Russland unterstützten Separatisten verwüstet. In Kiew ist die Sorge groß vor einem Einmarsch russischer Streitkräfte. Mehr als 21 000 gefechtsbereite Soldaten hat die Regierung in Moskau an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Die Lage ist sehr gefährlich auch angesichts der Sanktionsspirale, in die sich die Europäische Union und Russland begeben haben.
Eine politische Lösung ist nicht in Sicht und die Hoffnung auf baldige Gespräche zwischen den Krieg führenden Parteien ist klein. Zehn Monate nach den ersten Protesten auf dem Maidan-Platz in Kiew sind knapp 300 000 Ukrainer auf der Flucht vor dem Krieg und diejenigen, die in den umkämpften Gebieten von Donezk und östlich davon geblieben sind, tun das unter schrecklichen Umständen. Beschuss von beiden Seiten, unterbrochene Strom- und Wasserversorgung, zerbombte Krankenhäuser, Straßen und Plätze, Schulen und Kindergärten.
Vier Monate wird nun geschossen und zerbombt. Mindestens 1100 Menschen wurden getötet, sicher 3400 verletzt. Nachzulesen ist das in einer neuen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Was ist das für ein Krieg, der im Osten Europas ausgekämpft wird, ohne jemals von einer der beteiligten Seiten erklärt worden zu sein? Das ist der Gegenstand dieser Untersuchung, die von einem „Konflikt mit hoher Intensität“ spricht.
Nicht nur Ukrainer und Russen kämpfen für die Separatisten
Die aufständischen Banden sollen demnach aus etwa 15 000 Kämpfern bestehen: Ukrainische und russische Freiwillige, Offiziere und Angehörige der Militärgeheimdienste beider Länder, Söldner und lokale Sicherheitskräfte, Osseten, Armenier, Kosaken und Tschetschenen kämpfen gegen die Ukrainer.
Die ukrainische Regierung setzt ihre Streitkräfte und die militärischen Einheiten des Geheimdienstes ein, Grenzschutztruppen und die Nationalgarde sowie den Katastrophenschutz. Trotz ihrer zum Teil schlechten Ausrüstung und Ausbildung, trotz akutem Geld- und Nachschubmangel, trotz großer Loyalitätsprobleme und einer grassierenden Korruption innerhalb dieser Einheiten wären die Chancen der selbsternannten Separatisten nicht groß, gäbe es nicht eine umfangreiche Unterstützung von russischer Seite: Mit Waffen, Gerät und Personal, mit Trainingscamps im nahe gelegenen Rostow am Don, mit einem Rückzugsraum in der Grenzregion und der massiven propagandistischen Unterstützung durch die staatlich gelenkten russischen Medien.
Die Studie beschreibt schließlich etwas, was auch in Brüssel oder Berlin als ein Dilemma empfunden wird: Das ist die Anti-Terror-Operation der Regierung in Kiew. Sicher habe die Ukraine das Recht, ihre territoriale Integrität, ihre verfassungsmäßige Ordnung auch „mit Gewalt“ wiederherzustellen. Andererseits bestehe die Gefahr, heißt es weiter, dass dem militärischen Erfolg die Verhältnismäßigkeit der Mittel untergeordnet werde. Das ist es aber längst nicht allein. Die Annexion der Krim im Frühjahr, der wenig später beginnende Krieg im Donbass, die von der EU Schritt für Schritt verhängten Sanktionen gegen Russland, immer wieder gescheiterten Gespräche mit der Regierung in Moskau und schließlich Russlands Sanktionen gegen den Westen, macht die Situation immer komplizierter und immer gefährlicher.
In Osteuropa wächst die Angst
Abseits offizieller Bekundungen wächst die Angst vor Russland nicht nur in Kiew. Sie tut es auch in Warschau und in Vilnius, in Riga und in Tallin, in Helsinki, in Stockholm, selbst in Oslo. Norwegen ist nicht in der EU: Soll es deren Sanktionen mit tragen? Schweden und Finnland sind nicht in der NATO. Sollen sie dem Verteidigungsbündnis beitreten? Noch sind die Bevölkerungsmehrheiten in allen Ländern sowohl gegen einen EU- wie einen NATO-Beitritt. Darüber hinaus werden die verhängten Sanktionen sowohl der EU wie die Russlands negative ökonomische Auswirkungen haben. Dafür ist der Warenaustausch viel zu eng. Doch was soll geschehen, wenn die Moskauer Regierung Teile ihrer Armee in den Osten der Ukraine einmarschieren lässt?
Das wäre ein militärischer und ein politischer Alptraum. Niemand in einer westeuropäischen Hauptstadt und auch in Washington will einen Krieg in Europa. Hinzu kommt: Die Ukraine ist nicht in der NATO. Und in deren Hauptquartier ist die Lage schon kompliziert genug: Russland hat nach den USA dort mit 75 Diplomaten und Offizieren die zweitgrößte Delegation. Die darf seit März nicht mehr in die NATO-Zentrale, mit Ausnahme des Botschafters, seiner Sekretärin und seines Fahrers. Viele Militärs sind zurück in Russland, die Diplomaten vorerst noch in Brüssel. Russland ist kein Partner mehr nach der Annexion der Krim. Ein Gegner soll es aber auch nicht werden.
ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).